Obsession

Von Tantedora

Liebe Tante Dora,

ich schreibe Dir, weil ich nicht weiter weiß. Es gibt da einen Mann, der mich fasziniert. Nein, “fasziniert” – das ist noch zu wenig, er treibt mich um. Ich bin mir sicher, dass er ein eitler, unsteter, unzuverlässiger Popanz ist. Er ist einer, der mein gut geregeltes Leben aus den Angeln heben wird. Er ist nicht gut für mich.

Ich weiß, dass wir mir und vielleicht auch anderen weh tun werden. Ich weiß das alles. Ich stehe nicht auf Schmerz, weder auf den seelischen noch auf den körperlichen. Aber ich komme nicht dagegen an! Ich phantasiere darüber, was er mit mir anstellen wird zwischen weißen, vorerst frischen Laken.

Er hat mich eingeladen, mit ihm wegzufahren. 14 Tage mit ihm in einer anderen Stadt, in ein anderes Leben.
Sollte ich das tun?

Grüße von Mailine im Frühjahr 2011

Liebe Mailine,

Deine Frage hat mich in arge Bedrängnis gebracht! Ja, es hat mich mit Dir zerrissen.

Im inneren Wettstreit standen ein üppiges, lebensvolles Tantchen und ihr viel g’strengeres, erfolgsgewöhntes Alterego. Das Tantchen ist eins, das Dir gerne den Extraschlag Rahm zu den Erdbeeren per Trichter einflößen wollen würde.
Sacht flüstert sie Dir Zitate von Oscar Wilde ins Ohr: “Die einzige Möglichkeit, eine Versuchung zu überwinden, ist, sich ihr hinzugeben.” Das meint sie auch so, denn sie hat ein Herz für die Extravaganzen des Lebens und liefert damit immer die passende Antwort auf all seine kleinen und großen Unzulänglichkeiten.
Im Schoß der ollen Dame ist es warm und weich. Ein Plätzchen zum Verweilen, zum Ausruhen. Ausruhen auf diesen üppigen Polstern aus Erfahrung, Butter und Likör.

Dort liegst Du nun, eingelullt vom intensivem Geruch von Braten und Gebäck, schaust auf diese lächelnden Runzeln um ihre Augen.
Du knibbelst an ihrem neonpinken, abgeplatzten Nagellack und es fällt Dir nicht schwer, Dir vorzustellen, wie das Tantchen in den Wirtschaftswunderjahren an den Stränden Ibizas in wehenden Gewändern und mit Blumen im Haar jungendliche Fischersburschen reihenweise …
Hach, das wäre groß, mutig und so einfach! Einfach nachgeben! Einfach abhauen! Ja, wieso nicht einfach? Dein Herz hebt an zu jubilieren und das Tantchen wäre bereit miteinzustimmen. Doch da ist etwas, das sticht.

“Einfach. Ist es denn so?”, rührt sich eine leise Stimme. Eine Madame legt ihren feingliedrigen, manikürten Finger in die Wunde. Ihre Bluse ist gestärkt und atmet Reinheit. Sie sitzt in perfekter Haltung, mit der Anmut einer in die Jahre gekommenen Primaballerina auf einem schlichten Holzstuhl Euch gegenüber.

Eine andere Leichtigkeit strahlt von ihr aus. Die Kunst, eben jenes einfach aussehen zu lassen, was doch eigentlich verflixt schwer ist. Erkauft, erkämpft, erarbeitet mit Entsagungen, Schmerz und Unnachgiebigkeit. Sogar wenn sie lächelt, bleibt sie neutral. Eine Wolke aus Sandelholz mit einer Kopfnote Zitrus.
Ob sie mit oder über Euch schmunzelt, wie Ihr da so verschlungen seid in all Euren Begierden? Ihr Blick gleitet in Ecken mit Kram, der sich stapelt, über alte Rechnungen vom Tantchen zu ihren Küchenschränken mit dem kleinen Speisemotten-Problem. War das ein Kopfschütteln? Ein wenig wütend macht Dich das schon.

Unwillkürlich löst Du Dich vom Tantchen, um ihr entgegen zu treten, diesem verhärmten Drachen. Doch entgegen Deinem Trotz musst Du Dir eingestehen: Verdammt! Sie sieht gut aus! So unaufdringlich selbstbewußt wie sie Dir gegenüber thront und eigentlich doch auch nicht wirklich so abgemagert, eher drahtig. Das muss sich mächtig gut anfühlen, so kontrolliert, stark und erwachsen zu sein! Wieder fragt sie Dich: “Ist es so einfach?” Du hörst, sie will Dir sagen, so einfach ist es nie.

Mit diesem imaginären Kaffeekränzchen habe ich Zeit verbracht im letzten Jahr! So viel Zeit, dass ich Deinen Zwist nicht schlichten mochte.

Wie auch immer Dein innerer Wettstreit also ausgefallen sein mag – insgeheim hoffe ich, Ihr habt Euch ordentlich durch die Laken gewühlt – bleibt mir als eine Art Rat oder vielmehr als Trost nur zu schreiben:

Vernunft und Leidenschaft sind Teile von Dir. Sie bleiben Dir erhalten! Die Kluft zwischen beiden, sie wird sich Dir wieder und wieder aufdrängen. Sie wird Dich in den unpassensten Momenten zu Entscheidungen zwingen. Das ist wohl so ein Wachstumsding! Dass aber beide Prinzipien in uns walten, lässt uns unter anderem auch stark sein ohne zu verhärten. Hab also keine Angst vor Fehlern, sondern vertraue in die Kraft Deiner eigenen Widersprüche.

Wie Du um Akzeptanz bemüht,
Deine Tante Dora