Theodor Hosemann,
Armut im Vormärz
Ein Mindestlohn holt Einzelfall für Einzelfall aus Arbeitsverhältnissen heraus, die schlecht, unangemessen oder sogar sittenwidrig bezahlt werden. Man könnte also natürlich meinen, dass er ganz subjektiv greift, nur einzelnen Lohnabhängigen hilft. Aber hinter der Etablierung eines solchen Konzepts steht ja nicht nur, dass man Hinz und Kunz aus der Misere verhelfen will, man will kollektiv dafür sorgen, dass gewisse Geschäftskonzepte und -modalitäten nicht mehr Gestalt annehmen können. Anders gesagt: Der Mindestlohn ist eben nicht nur der Anspruch eines Einzelnen, er ist viel mehr noch eine grundsätzliche Garantie für die Allgemeinheit. Er wirkt zwar fürwahr subjektiv, objektiviert aber zeitgleich; er ist ein Individualanspruch, der simultan eine Kollektivgarantie ausspricht: Nämlich nicht mehr für eine Summe schuften zu müssen, die unter einer gewissen Grenze liegt und damit menschliche Arbeitskraft entwertet.
Genau diesen Umstand vergisst man bei der »Frankfurter Allgemeinen«, wenn man jetzt mal wieder Meinung macht dagegen. Denn dass Flüchtlinge nur Anspruch auf Schutz hätten, nicht aber – sofern sie Arbeit ergreifen – auch einen Anspruch auf gerechte Bezahlung, steht gar nicht unbedingt im individuellen Kontext. Wäre dem so, könnte man – so ein wenig aus dem Bauch heraus – sogar zustimmen. Aber genau so verhält es sich mit dem Mindestlohn ja eben nicht. Es geht nicht nur um den Geflüchteten, der jetzt arbeitet. Es geht um alle, die lohnabhängig beschäftigt sind. Wenn das Gefüge wieder aufplatzt, weil es Nischen im System gibt, in dem man unter Mindestlohnniveau arbeiten lassen kann, dann berührt man die kollektive Garantie, die ein unteres Mindestmaß an Stabilität verwirklichen soll; so verbilligt man Arbeitskraft wieder und tangiert damit eben nicht nur den Asylbewerber, sondern die Allgemeinheit, also alle, die sich als abhängig Beschäftigte verdingen müssen.
Nun ist es ja über Jahre hinweg so gewesen, dass diese Tageszeitung aus Frankfurt Werbung für neoliberale Ideen und Ideale machte. Es ging um Vereinzelung, Selbstinitiativen, um Isolierung des Individuums und um Entsolidarisierung. Ganz im thatcheristischen Sinne, wonach es ja gewissermaßen keine Gesellschaft gäbe, sondern nur einzelne Familien oder Personen. Dass man also in jener Redaktion verlernt hat, einen Ansatz wie den Mindestlohn als eine Einrichtung zu verstehen, die nicht lediglich dazu gedacht ist, um das vom Gesellschaftlichen entkeimte Individuum mit Ansprüchen auszustatten, muss man wohl als die Verlorenheit dieser Zeitung in den Tiefen dieser Ideologie bewerten. Wenn man mehr als knöcheltief in der pseudoliberalen Suppe steckt, dann ist es wohl ziemlich schwierig, sich einen gesellschaftlichen Aspekt zu denken. Dann sieht man nur die Putzfrau, die montags, mittwochs und freitags durchwischt und nun gierig mehr will, nicht aber das Heer an Putzkolonnen, das sich bis vor einigen Monaten abstrampelte und trotzdem zum Jobcenter musste.
Jedes Abweichen, jede Ausnahmeregel geht alle an, nicht nur den Geflüchteten, der für weniger als Standard malochen soll. Denn an dieser Schneise degradiert man menschliche Arbeitskraft wieder, dumpt den einzigen Rohstoff, den so viele Beschäftigte haben: Eben ihre Arbeitskraft. Wer die willfährig zu Schleuderpreisen anbieten will, der schadet allen, die froh sein müssen, dass es eine Untergrenze gibt. Dass die FAZ so argumentiert, passt natürlich ins Konzept. Sie will Obergrenzen für Menschen, denen die Heimat zersprengt wurde und Untergrenzen für jene, bei denen die Obergrenzen nicht gegriffen haben. Die Freiheit mit allerlei Grenzen halt: Das ist der Liberalerismus jener, die sich mit dem Präfix Neo- zieren.