Von Stefan Sasse und Jan Falk
Stefan Sasse: Der aktuelle Haushaltsplan Obamas hat viel Aufmerksamkeit dafür erhalten, dass er Kürzungen im Sozialsystem beinhaltet - besonders bei Medicare - und damit auf die Republicans zugeht. Gleichzeitig enthält er im Verhältnis von rund 1:2 Steuererhöhungen, so dass jedem Dollar aus Steuererhöhungen zwei aus Einsparungen gegenüberstehen. Trotzdem geht niemand davon aus, dass die Republicans diesen Vorschlag annehmen werden, und mit ihrem Radikalprogramm ohne Steuererhöhungen werden sie nicht genug Stimmen im Senat erhalten. Die Frage, die manche Beobachter sich nun stellen ist, ob Obama bereits den Boden für 2015 bereitet, wenn er hoffentlich durch die Midterms eine Mehrheit der Democrats im House of Representatives hat. Was denkst du darüber?
Jan Falk: Schulden und Haushaltspolitik sind in den USA, wie auch bei uns, eines der zentralen Themen der Politik und auch eines der kompliziertesten, weil öffentliche Argumente für oder gegen Kürzungen, für oder gegen eine hohe Neuverschuldung, für oder gegen Steuern so oft von den eigentlichen, lang- und mittelfristigen Zielen der Parteien abweichen. Man muss stets eine Reihe rhetorischer Ablenkungsmanöver durchschauen, bevor man diese Debatte einordnen kann.
Von der These, dass Obama derzeit vor allem an die Zeit nach den Midterms denkt, halte ich nicht besonders viel. Sicher haben beide Parteien bereits die nächste Wahl im Visier. Man sieht ja, wie wenig das Weiße Haus ohne Mehrheiten im Senat ausrichten kann. Aber auf eine eigenen House-Mehrheit machen sich bei den Democrats wohl nur die Optimisten Hoffnungen. Dazu müssten sie die House-Races durchschnittlich mit plus sieben (!) Prozent gewinnen, wie Ian Millhiser neulich bei Think Progress ausgerechnet hat.
Das liegt daran, dass die Republicans derzeit durch den Zuschnitt der Wahlbezirke einen großen Vorteil haben (Gerrymandering). Derzeit liegen die Democrats bei plus fünf Prozent, aber ob das in der Wahlkampfphase so bleibt, ist fraglich. Übrigens sind auch im Senat die Chancen für eine Machtübernahme der Rechten nicht schlecht, die Democrats müssen von den 33 Rennen immerhin 21 verteidigen, teils in Red-States. Ab 2014 könnte sich die Macht im Kongress also auch weiter zu den Republicans verschieben.
Was ich eher glaube: Obama will jetzt, solange er noch keine Lame-Duck ist, wirklich etwas bewegen. Die Zeit läuft ihm davon, und er hat noch viel vor: Waffengesetze, Klima, Immigration, Wahl-Reform usw. Und da nimmt er sogar erheblichen Druck von Links auf sich, um zu einem Kompromiss in der Haushaltsfrage zu kommen, oder, wenn das nicht klappt, immerhin als der Kompromissbereite dazustehen. Wir haben ja hier in Deutschland das Phänomen, dass Frau Merkel alle möglichen Themen der Opposition besetzt und sie quasi vor der Wahl abräumen möchte (Atomausstieg, Mindestlohn usw.). Ähnliches würde Obama natürlich mit dem Schuldenthema auch gerne erreichen.
Schulden sind zwar im Grunde allen egal, auch den Republikanern, aber diese beherrschen es unheimlich gut, mit Debt-Scare die Wähler zu mobilisieren. Schulden sind, wie Jon Chait angemerkt hat, der einzige große, politisch kapitalisierbare Kritikpunkt von Rechts überhaupt an Obama.
Dazu muss man wissen, dass Schulden eigentlich schon kein großes Problem mehr für die USA sind: Durch Steuerererhöhungen für Reiche, Obamacare und die Sequestration hat sich die mittelfristige Schuldenkurve schon ein gutes Stück nach unten gebogen. Das glaubt jedoch der Beltway-Mainstream noch nicht. Könnte Obama noch einen "großen" Haushaltsdeal mit den Republicans machen, würde er diese um ihr größtes Wahlkampfthema bringen und die Agenda in Washington für andere Themen frei machen. Und genau deshalb wird die GOP wohl wieder mal entschieden "nay" sagen.
Gehts also um Wahlkampf? Klar. Aber Obama dürfte eher an die Zeit vor 2014 und nach 2016 als an die zwischen 2014 und 2016 denken. Wie viel schafft er noch kurzfristig, wie viel wird er nach seinen acht Jahren im Weißen Haus erreicht haben?
Stefan Sasse: Das "Legacy-Fishing" ist generell ein Problem, dem sich amerikanische Präsidenten wesentlich mehr als etwa deutsche Bundeskanzler stellen. Rankings von Historikern leisten dazu ebenfalls ihren Beitrag. Man darf Obama also durchaus unterstellen, dass er in quasi-dynastischen Begriffen denkt. Wie wird die Nachwelt mich beurteilen? Werde ich ein großer Präsident sein, oder einer, der versagt hat? Die gleichen Fragen werden sich auch die Republicans stellen, die ein positives Vermächtnis nicht zulassen wollen.
Ich halte die Aussicht auf 2014 ebenfalls für problematisch. Ich bin nicht sicher, inwieweit das Gerrymandering tatsächlich so ein entscheidendes Problem ist (Staaten, die den Democrats zuneigen, betreiben es auch, und das popular vote bei den Präsidentschaftswahlen ist als Referenz für die Midterms bestenfalls mangelhaft), aber es dürfte durchaus für Verzerrungseffekte sorgen. Viel wichtiger aber ist, wer aus dem Ringen um die Deutungshoheit im Haushaltsstreit als Sieger hervorgeht. Werden die Republicans die Schuld zugeschrieben bekommen, weil sie nicht bereit sind, auf Obama zuzugehen? Oder wird sich die Lesart als überlegen erweisen, die die Schulden als vordringlichstes Problem und Schuld Obamas ansieht, der nicht einsehen will, dass die Republicans die Hüter von Haushaltsdisziplin und Stabilität sind?
Dieses Ringen wird wohl hauptsächlich von der gefühlten ökonomischen Lage bestimmt werden. Der Versuch Romneys, im Wahlkampf 2012 eine gewaltige Rezension herbeizureden, war weitgehend erfolglos. Gleichzeitig ist es möglich, dass der bereits 2012 messbare Wechsel zu einer Weltsicht in der US-Bevölkerung, der fundamental und eher liberal ist, auch 2014 weiter gehen und die radikaleren Ideologen in die Enge treiben wird. All dies sind Faktoren, die Obama bedenken muss und sicher auch bedenkt.
Jan Falk: Ich bin gar nicht sicher, ob man Obamas Versuch so negativ bewerten sollte, möglichst viel von seiner Reform-Agenda durchzusetzen. Schließlich sind die USA ein Land mit riesigen Problemen auf so vielen Gebieten - Steuern, CO2-Ausstoß, Armut, Infrastruktur, Wahlsystem, Geld in der Politik... you name it.
Die Republikaner haben tatsächlich ein Interesse daran, zu große Erfolge nicht zuzulassen, selbst wenn sie ideologisch eigentlich relativ unumstritten sind - wie Wirtschaftswachstum und sinkende Arbeitslosenzahlen. Das liegt an den perversen Anreize im US-System bei geteilter Macht. Denn obwohl man den Amerikanern bei uns gerne großen Pragmatismus bescheinigt: Zumindest die Player in Washington interessieren sich oft viel mehr für ihre Ideologien - und die Wiederwahl natürlich - als für Ergebnisse. Und Erfolge und Misserfolge fallen eben in der öffentlichen Wahrnehmung immer nur auf den Präsidenten zurück.
Du hast Bill Clinton mit seiner gescheiterten Gesundheitsreform angesprochen und recht damit. Aber dennoch hat seine Unterstützung im Wahlkampf 2012 enorm geholfen. Denn die Wähler haben sich erinnert, dass moderate Steuererhöhungen funktionieren, dass es zuletzt unter einem Demokraten einen ausgeglichenen Haushalt gab usw. Sollte auch Obama bis zum Ende seiner Amtszeit ein weiterer Abbau der Arbeitslosigkeit und eine Lösung des (eigentlich relativ harmlosen, aber als dramatisch wahrgenommenen) Schuldenproblems gelingen, droht den Republikanern auf Jahrzehnte eine politische Konkurrenz mit einem sehr viel besseren Langzeitimage.
Obama versteh Politik glaube ich in solchen Zeitabschnitten, als "Long-Game", einer Strategie, die man in der Erziehung wohl Gratifikationsaufschub nennen würde. Sicher erreicht er nicht alles, was er sich vorgenommen hat, vieles versandet auch in Kompromissen. Aber schauen wir mal exemplarisch auf das Ende von "Don't Ask Don't Tell": Damals hatte die linke Basis nach raschem, exekutivem Handeln gerufen, um die Gleichstellung der Homosexuellen im Militär zu ermöglichen. Obama bestand jedoch auf dem vergleichsweise langsamen Weg über den Senat. Nur bedeutet das eben umgekehrt auch: Die Änderungen können von der nächsten Regierung nicht einfach wieder zurückgenommen werden, ein langfristiges Überleben dieses Fortschritts wird wahrscheinlicher. Ich würde es "nachhaltiges Regieren" nennen: Nicht nur change, sondern sustainable change.
Sicher kann man diese Lektion auch "überlernen" und sich gar nichts mehr trauen. Aber gerade mit der Gesundheitsreform hat Obama an der richtigen Stelle eben doch die politische Brechstange rausgeholt und sie gegen Widerstände durchgesetzt. Es ist ein kleines Wunder, dass diese Reform den Supreme Court, die Wahl und alle anderen Sabotage-Versuche überstanden hat. Aber Obamacare ist jetzt eine historische Errungenschaft: Zum ersten Mal werden Millionen der ärmsten US-Bürger eine Krankenversicherung haben. Und, auf einer makroökonomischen Ebene: Zum ersten Mal seit Jahrzehnten hat eine US-Regierung mit einem Gesetz wieder eine nennenswerte Umverteilung von Oben nach Unten durchgesetzt.
Und das ist es, was Obama wirklich erreicht hat: Das Ende einer neoliberalen Hegemonie einzuläuten, die Thatcher und Reagan tief im politischen Denken verankert hatten, die die Generation Clinton nicht überwinden konnte.
Stefan Sasse: Ich habe überhaupt nichts dagegen, dass Obama versucht, viel von seiner Reform-Agenda durchzusetzen. Ich bin bei Andrew Sullivan, der die Notwendigkeit dieser Reformen voll einsieht, obwohl er eigentlich eher ein conservative ist (aber eben nicht right-wing, in den USA eine wichtige Unterscheidung). Die Anreize im Politsystem sind aber nicht US-spezifisch: auch bei uns mussten sowohl die SPD (in den 1950er Jahren) als auch die CDU (in den frühen 1970er Jahren) lernen, dass der Versuch, aus der Opposition konstruktiv zu arbeiten, zum Scheitern verurteilt ist. Erfolge schreibt der Wähler grundsätzlich der Regierung zu, ebenso wie Misserfolge. Der Wähler setzt damit Anreize für destruktives Politikverhalten. Man sehe sich nur Lafontaine im Bundesrat ab 1995 an!
Gerade deswegen ist Obamas Strategie denke ich auch erfolgreich. Er interessiert sich gar nicht so sehr für die kurzfristigen Siege, solange es um seine langfristigen Projekte geht, und er weiß, was davon was ist. Die Hilfe für die Opfer von Hurrican Sandy etwa war ein Projekt, das es kurzfristig durchzuboxen galt und das er durchboxen musste - ein Präsident, der den Opfern nicht hilft, wird schwer in Zweifel gezogen, wie George W. Bush 2005 erfahren musste. Obama nutzte hier aus, dass der republikanische Gouverneur des besonders hart betroffenen New Jersey ebenfalls nicht warten konnte.
Genau diese Anreize erkennen die Republicans aber auch immer mehr. Und das ist die Gefahr für Obama. Wenn es ihnen gelingt, die Haushaltsdebatte am Leben zu halten, indem sie einen Durchbruch - gleich in welche Richtung - verhindern, so schafft Obama es nicht, hier irgendein Momentum zu entwickeln, wie das bei Obamacare der Fall war. Diese Taktik ist auch der Grund dafür, dass die Kritik der Republicans inhaltlich ziemlich beliebig ist. Erst greifen sie Obama dafür an, dass er die Sozialleistungen nicht antastet, jetzt wo er es im aktuellen Haushalt macht, werfen sie ihm die Kürzungen bei den Rentnern vor. Sie verlassen sich, leider vermutlich richtigerweise, auf das schlechte Gedächtnis des Wählers und die mangelnde Einordnungsfähigkeit der Journalisten. Bekommt Obama keinen vernünftigen Haushaltsplan durch, wird das sein Versagen sein - völlig egal, wie irrational und aggressiv sich die Republicans vorher aufgeführt haben.
Jan Falk: Und das macht die Debatte so unehrlich, auch so undurchschaubar. Denn die Wähler verstehen größtenteils nicht viel von der Materie und sind verführbar durch Slogans, die sich einfach gut anhören. Ich finde den Link nicht mehr, aber bei den Verhandlungen zum Fiscal Cliff Ende des letzten Jahres dachte eine große Mehrheit in einer Befragung, die Gefahr bestehe in zu hohen neuen Schulden. Beinahe niemand hatte verstanden, dass mit einem Inkrafttreten des Cliff zu viel auf einmal gespart würde und die Wirtschaft abgewürgt werden könnte. "Why do people still fail to get Keynes, after all these years?", fragte Paul Krugman schon 2008 relativ verzweifelt.
Die Unwissenheit der Wähler wäre noch zu verschmerzen, wenn wenigstens die Presse die Geschehnisse sinnvoll einordnen würde. Aber das Washington-Establishment mit seiner "view from nowhere" ist dazu nicht in der Lage. Viele Berichterstatter ziehen grundsätzlich eine "ausgewogene" Berichterstattung einer kritischen Einordnung vor und lassen das Publikum damit ziemlich im Dunkeln. Nur so ist der Bullshit, den die Republicans seit Jahren abziehen, überhaupt möglich. Aber angesichts dieser Medienlandschaft, dieser politischen Kultur in Washington und dieser Opposition hat Obama viel, sehr viel erreicht, vielleicht mehr als alle Präsidenten des 20 Jahrhunderts außer Lyndon B. Johnson und Franklin D. Roosevelt.
Stefan Sasse: Wenn man Clinton ansieht, der wirklich nicht viel zu Wege gebracht hat außer nur wenig in den Sand zu setzen und auch keine Katastrophen von seinem Vorgänger geerbt hat und heute als Heiliger verehrt wird, so sollte Obama eigentlich in spätestens einer Dekade der neue Franklin D. Roosevelt der Democrats sein, ganz besonders, wenn das Weiße Hause zwischendurch republikanisch besetzt wird.
Du vergisst aber in deiner Medienschelte noch, dass die wertfreie Darstellung beider Seiten ein Phänomen ist, das bei weitem nicht alle Medien-Outlets betrifft. Fox News und MSNBC sind offensichtlich parteiisch, und die New York Times und die Washington Post unterhalten ebenfalls exzessive Meinungskolumnen (andere große US-Zeitungen lese ich nicht regelmäßig, irgendwann ist die Zeit alle).
Aber, um die Frage von Obamas "long game" zum Abschluss zu bringen: es bleibt faszinierend, wie er mit den widrigen Umständen arbeitet und wie wenige Leute seine Politik tatsächlich verstehen (also die politics, nicht die policy). Er wird massiv von allen Seiten kritisiert, sowohl von rechts als auch von links, und kämpft gegen eine ungewöhnlich destruktive Opposition an, die ihn aus tiefster Seele hasst - kein Vergleich zur Wohlfühl-Konsens-Demokratie einer Angela Merkel. Seine langfristige Planung, die von den ständigen Skandalwolken des täglichen Politikbetriebs etwas abgehoben ist (und ihm diesen abgehobenen Touch gibt) mag die einzige Möglichkeit sein, auf diese Situation zu reagieren, wenn man seine ambitionierte Reformagenda umsetzen will.
Ich bezweifle jedenfalls, dass eine Hillary Clinton soviel erreicht haben würde wie er. Nur noch einmal zum Mitschreiben: Irak-Krieg beendet, Krankenversicherung für alle eingeführt, Stimulus für die Wirtschaft 2009, Abschaffung von "Don't ask, don't tell", offener Kampf für die Gleichstellung der Homo-Ehe. Der Afghanistan-Abzug ist auf 2014 festgelegt. Alles Dinge, die er sich 2008 vorgenommen hat. Was hat Merkel von den Dingen umgesetzt, die sie sich 2009 vorgenommen hat?
Jan Falk: Wir sollten gar nicht erst den Versuch unternehmen, Merkels Bilanz mit der Obamas zu vergleichen. Nur zwei Werte, die uns demnächst noch öfter beschäftigen werden. Arbeitslosenquote 04/2013 US: 7.6%, EU: 12%. Merkels Politik ist in gewisser Weise auch nachhaltig: Sie ruiniert nachhaltig die Euro-Zone.
white house / flickr
Politische Beobachter in Washington wie Jonathan Chait haben darauf hingewiesen, dass Obamas Strategie, politische Initiativen durchzusetzen, deutlich langfristiger angelegt sei als die seiner Konkurrenten und generell als die der meisten Politiker ("Long Game"). Er sieht den langen, kohärenten Kampf für den Affordable Healthcare Act ("Obamacare") als Paradebeispiel. Der sich aktuell bereits seit Monaten hinziehende Kampf um den US-Haushalt könnte ein weiteres Beispiel für eine solche Langzeitplanung sein. Wir wollen einmal darüber reden, ob und wie Obamas Strategie langfristig aufgehen könnte und wie wirksam diese Maßnahmen sind.Stefan Sasse: Der aktuelle Haushaltsplan Obamas hat viel Aufmerksamkeit dafür erhalten, dass er Kürzungen im Sozialsystem beinhaltet - besonders bei Medicare - und damit auf die Republicans zugeht. Gleichzeitig enthält er im Verhältnis von rund 1:2 Steuererhöhungen, so dass jedem Dollar aus Steuererhöhungen zwei aus Einsparungen gegenüberstehen. Trotzdem geht niemand davon aus, dass die Republicans diesen Vorschlag annehmen werden, und mit ihrem Radikalprogramm ohne Steuererhöhungen werden sie nicht genug Stimmen im Senat erhalten. Die Frage, die manche Beobachter sich nun stellen ist, ob Obama bereits den Boden für 2015 bereitet, wenn er hoffentlich durch die Midterms eine Mehrheit der Democrats im House of Representatives hat. Was denkst du darüber?
Jan Falk: Schulden und Haushaltspolitik sind in den USA, wie auch bei uns, eines der zentralen Themen der Politik und auch eines der kompliziertesten, weil öffentliche Argumente für oder gegen Kürzungen, für oder gegen eine hohe Neuverschuldung, für oder gegen Steuern so oft von den eigentlichen, lang- und mittelfristigen Zielen der Parteien abweichen. Man muss stets eine Reihe rhetorischer Ablenkungsmanöver durchschauen, bevor man diese Debatte einordnen kann.
Von der These, dass Obama derzeit vor allem an die Zeit nach den Midterms denkt, halte ich nicht besonders viel. Sicher haben beide Parteien bereits die nächste Wahl im Visier. Man sieht ja, wie wenig das Weiße Haus ohne Mehrheiten im Senat ausrichten kann. Aber auf eine eigenen House-Mehrheit machen sich bei den Democrats wohl nur die Optimisten Hoffnungen. Dazu müssten sie die House-Races durchschnittlich mit plus sieben (!) Prozent gewinnen, wie Ian Millhiser neulich bei Think Progress ausgerechnet hat.
Das liegt daran, dass die Republicans derzeit durch den Zuschnitt der Wahlbezirke einen großen Vorteil haben (Gerrymandering). Derzeit liegen die Democrats bei plus fünf Prozent, aber ob das in der Wahlkampfphase so bleibt, ist fraglich. Übrigens sind auch im Senat die Chancen für eine Machtübernahme der Rechten nicht schlecht, die Democrats müssen von den 33 Rennen immerhin 21 verteidigen, teils in Red-States. Ab 2014 könnte sich die Macht im Kongress also auch weiter zu den Republicans verschieben.
Was ich eher glaube: Obama will jetzt, solange er noch keine Lame-Duck ist, wirklich etwas bewegen. Die Zeit läuft ihm davon, und er hat noch viel vor: Waffengesetze, Klima, Immigration, Wahl-Reform usw. Und da nimmt er sogar erheblichen Druck von Links auf sich, um zu einem Kompromiss in der Haushaltsfrage zu kommen, oder, wenn das nicht klappt, immerhin als der Kompromissbereite dazustehen. Wir haben ja hier in Deutschland das Phänomen, dass Frau Merkel alle möglichen Themen der Opposition besetzt und sie quasi vor der Wahl abräumen möchte (Atomausstieg, Mindestlohn usw.). Ähnliches würde Obama natürlich mit dem Schuldenthema auch gerne erreichen.
Schulden sind zwar im Grunde allen egal, auch den Republikanern, aber diese beherrschen es unheimlich gut, mit Debt-Scare die Wähler zu mobilisieren. Schulden sind, wie Jon Chait angemerkt hat, der einzige große, politisch kapitalisierbare Kritikpunkt von Rechts überhaupt an Obama.
Dazu muss man wissen, dass Schulden eigentlich schon kein großes Problem mehr für die USA sind: Durch Steuerererhöhungen für Reiche, Obamacare und die Sequestration hat sich die mittelfristige Schuldenkurve schon ein gutes Stück nach unten gebogen. Das glaubt jedoch der Beltway-Mainstream noch nicht. Könnte Obama noch einen "großen" Haushaltsdeal mit den Republicans machen, würde er diese um ihr größtes Wahlkampfthema bringen und die Agenda in Washington für andere Themen frei machen. Und genau deshalb wird die GOP wohl wieder mal entschieden "nay" sagen.
Gehts also um Wahlkampf? Klar. Aber Obama dürfte eher an die Zeit vor 2014 und nach 2016 als an die zwischen 2014 und 2016 denken. Wie viel schafft er noch kurzfristig, wie viel wird er nach seinen acht Jahren im Weißen Haus erreicht haben?
Stefan Sasse: Das "Legacy-Fishing" ist generell ein Problem, dem sich amerikanische Präsidenten wesentlich mehr als etwa deutsche Bundeskanzler stellen. Rankings von Historikern leisten dazu ebenfalls ihren Beitrag. Man darf Obama also durchaus unterstellen, dass er in quasi-dynastischen Begriffen denkt. Wie wird die Nachwelt mich beurteilen? Werde ich ein großer Präsident sein, oder einer, der versagt hat? Die gleichen Fragen werden sich auch die Republicans stellen, die ein positives Vermächtnis nicht zulassen wollen.
Ich halte die Aussicht auf 2014 ebenfalls für problematisch. Ich bin nicht sicher, inwieweit das Gerrymandering tatsächlich so ein entscheidendes Problem ist (Staaten, die den Democrats zuneigen, betreiben es auch, und das popular vote bei den Präsidentschaftswahlen ist als Referenz für die Midterms bestenfalls mangelhaft), aber es dürfte durchaus für Verzerrungseffekte sorgen. Viel wichtiger aber ist, wer aus dem Ringen um die Deutungshoheit im Haushaltsstreit als Sieger hervorgeht. Werden die Republicans die Schuld zugeschrieben bekommen, weil sie nicht bereit sind, auf Obama zuzugehen? Oder wird sich die Lesart als überlegen erweisen, die die Schulden als vordringlichstes Problem und Schuld Obamas ansieht, der nicht einsehen will, dass die Republicans die Hüter von Haushaltsdisziplin und Stabilität sind?
Dieses Ringen wird wohl hauptsächlich von der gefühlten ökonomischen Lage bestimmt werden. Der Versuch Romneys, im Wahlkampf 2012 eine gewaltige Rezension herbeizureden, war weitgehend erfolglos. Gleichzeitig ist es möglich, dass der bereits 2012 messbare Wechsel zu einer Weltsicht in der US-Bevölkerung, der fundamental und eher liberal ist, auch 2014 weiter gehen und die radikaleren Ideologen in die Enge treiben wird. All dies sind Faktoren, die Obama bedenken muss und sicher auch bedenkt.
white house / flickr
Seine Einflussmöglichkeiten allerdings sind einigermaßen beschränkt, weswegen die Theorie des "long game" auch so eingängig ist: es erfordert enorme Disziplin - die er zweifellos hat - und kann gleichzeitig einen enormen pay-off schaffen, wenn die Saat endlich aufgeht. Hätte Obama den Widerstand gegen den Affordable Healthcare Act nicht ausgestanden sondern wäre wie weiland Clinton eingeknickt, so wäre seine Position sicherlich eine andere. Besonders unter seinen liberal supporters aber setzt sich nach der anfänglichen Enttäuschung immer mehr Obamas Narrativ durch, dass er ein Meilenstein ist. Geht diese Entwicklung weiter und über das Obama-Lager hinaus, gerade auch in den Beltway-Journalismus, so könnte sich seine Strategie auszahlen.Jan Falk: Ich bin gar nicht sicher, ob man Obamas Versuch so negativ bewerten sollte, möglichst viel von seiner Reform-Agenda durchzusetzen. Schließlich sind die USA ein Land mit riesigen Problemen auf so vielen Gebieten - Steuern, CO2-Ausstoß, Armut, Infrastruktur, Wahlsystem, Geld in der Politik... you name it.
Die Republikaner haben tatsächlich ein Interesse daran, zu große Erfolge nicht zuzulassen, selbst wenn sie ideologisch eigentlich relativ unumstritten sind - wie Wirtschaftswachstum und sinkende Arbeitslosenzahlen. Das liegt an den perversen Anreize im US-System bei geteilter Macht. Denn obwohl man den Amerikanern bei uns gerne großen Pragmatismus bescheinigt: Zumindest die Player in Washington interessieren sich oft viel mehr für ihre Ideologien - und die Wiederwahl natürlich - als für Ergebnisse. Und Erfolge und Misserfolge fallen eben in der öffentlichen Wahrnehmung immer nur auf den Präsidenten zurück.
Du hast Bill Clinton mit seiner gescheiterten Gesundheitsreform angesprochen und recht damit. Aber dennoch hat seine Unterstützung im Wahlkampf 2012 enorm geholfen. Denn die Wähler haben sich erinnert, dass moderate Steuererhöhungen funktionieren, dass es zuletzt unter einem Demokraten einen ausgeglichenen Haushalt gab usw. Sollte auch Obama bis zum Ende seiner Amtszeit ein weiterer Abbau der Arbeitslosigkeit und eine Lösung des (eigentlich relativ harmlosen, aber als dramatisch wahrgenommenen) Schuldenproblems gelingen, droht den Republikanern auf Jahrzehnte eine politische Konkurrenz mit einem sehr viel besseren Langzeitimage.
Obama versteh Politik glaube ich in solchen Zeitabschnitten, als "Long-Game", einer Strategie, die man in der Erziehung wohl Gratifikationsaufschub nennen würde. Sicher erreicht er nicht alles, was er sich vorgenommen hat, vieles versandet auch in Kompromissen. Aber schauen wir mal exemplarisch auf das Ende von "Don't Ask Don't Tell": Damals hatte die linke Basis nach raschem, exekutivem Handeln gerufen, um die Gleichstellung der Homosexuellen im Militär zu ermöglichen. Obama bestand jedoch auf dem vergleichsweise langsamen Weg über den Senat. Nur bedeutet das eben umgekehrt auch: Die Änderungen können von der nächsten Regierung nicht einfach wieder zurückgenommen werden, ein langfristiges Überleben dieses Fortschritts wird wahrscheinlicher. Ich würde es "nachhaltiges Regieren" nennen: Nicht nur change, sondern sustainable change.
Sicher kann man diese Lektion auch "überlernen" und sich gar nichts mehr trauen. Aber gerade mit der Gesundheitsreform hat Obama an der richtigen Stelle eben doch die politische Brechstange rausgeholt und sie gegen Widerstände durchgesetzt. Es ist ein kleines Wunder, dass diese Reform den Supreme Court, die Wahl und alle anderen Sabotage-Versuche überstanden hat. Aber Obamacare ist jetzt eine historische Errungenschaft: Zum ersten Mal werden Millionen der ärmsten US-Bürger eine Krankenversicherung haben. Und, auf einer makroökonomischen Ebene: Zum ersten Mal seit Jahrzehnten hat eine US-Regierung mit einem Gesetz wieder eine nennenswerte Umverteilung von Oben nach Unten durchgesetzt.
Und das ist es, was Obama wirklich erreicht hat: Das Ende einer neoliberalen Hegemonie einzuläuten, die Thatcher und Reagan tief im politischen Denken verankert hatten, die die Generation Clinton nicht überwinden konnte.
Stefan Sasse: Ich habe überhaupt nichts dagegen, dass Obama versucht, viel von seiner Reform-Agenda durchzusetzen. Ich bin bei Andrew Sullivan, der die Notwendigkeit dieser Reformen voll einsieht, obwohl er eigentlich eher ein conservative ist (aber eben nicht right-wing, in den USA eine wichtige Unterscheidung). Die Anreize im Politsystem sind aber nicht US-spezifisch: auch bei uns mussten sowohl die SPD (in den 1950er Jahren) als auch die CDU (in den frühen 1970er Jahren) lernen, dass der Versuch, aus der Opposition konstruktiv zu arbeiten, zum Scheitern verurteilt ist. Erfolge schreibt der Wähler grundsätzlich der Regierung zu, ebenso wie Misserfolge. Der Wähler setzt damit Anreize für destruktives Politikverhalten. Man sehe sich nur Lafontaine im Bundesrat ab 1995 an!
Gerade deswegen ist Obamas Strategie denke ich auch erfolgreich. Er interessiert sich gar nicht so sehr für die kurzfristigen Siege, solange es um seine langfristigen Projekte geht, und er weiß, was davon was ist. Die Hilfe für die Opfer von Hurrican Sandy etwa war ein Projekt, das es kurzfristig durchzuboxen galt und das er durchboxen musste - ein Präsident, der den Opfern nicht hilft, wird schwer in Zweifel gezogen, wie George W. Bush 2005 erfahren musste. Obama nutzte hier aus, dass der republikanische Gouverneur des besonders hart betroffenen New Jersey ebenfalls nicht warten konnte.
Genau diese Anreize erkennen die Republicans aber auch immer mehr. Und das ist die Gefahr für Obama. Wenn es ihnen gelingt, die Haushaltsdebatte am Leben zu halten, indem sie einen Durchbruch - gleich in welche Richtung - verhindern, so schafft Obama es nicht, hier irgendein Momentum zu entwickeln, wie das bei Obamacare der Fall war. Diese Taktik ist auch der Grund dafür, dass die Kritik der Republicans inhaltlich ziemlich beliebig ist. Erst greifen sie Obama dafür an, dass er die Sozialleistungen nicht antastet, jetzt wo er es im aktuellen Haushalt macht, werfen sie ihm die Kürzungen bei den Rentnern vor. Sie verlassen sich, leider vermutlich richtigerweise, auf das schlechte Gedächtnis des Wählers und die mangelnde Einordnungsfähigkeit der Journalisten. Bekommt Obama keinen vernünftigen Haushaltsplan durch, wird das sein Versagen sein - völlig egal, wie irrational und aggressiv sich die Republicans vorher aufgeführt haben.
Jan Falk: Und das macht die Debatte so unehrlich, auch so undurchschaubar. Denn die Wähler verstehen größtenteils nicht viel von der Materie und sind verführbar durch Slogans, die sich einfach gut anhören. Ich finde den Link nicht mehr, aber bei den Verhandlungen zum Fiscal Cliff Ende des letzten Jahres dachte eine große Mehrheit in einer Befragung, die Gefahr bestehe in zu hohen neuen Schulden. Beinahe niemand hatte verstanden, dass mit einem Inkrafttreten des Cliff zu viel auf einmal gespart würde und die Wirtschaft abgewürgt werden könnte. "Why do people still fail to get Keynes, after all these years?", fragte Paul Krugman schon 2008 relativ verzweifelt.
Die Unwissenheit der Wähler wäre noch zu verschmerzen, wenn wenigstens die Presse die Geschehnisse sinnvoll einordnen würde. Aber das Washington-Establishment mit seiner "view from nowhere" ist dazu nicht in der Lage. Viele Berichterstatter ziehen grundsätzlich eine "ausgewogene" Berichterstattung einer kritischen Einordnung vor und lassen das Publikum damit ziemlich im Dunkeln. Nur so ist der Bullshit, den die Republicans seit Jahren abziehen, überhaupt möglich. Aber angesichts dieser Medienlandschaft, dieser politischen Kultur in Washington und dieser Opposition hat Obama viel, sehr viel erreicht, vielleicht mehr als alle Präsidenten des 20 Jahrhunderts außer Lyndon B. Johnson und Franklin D. Roosevelt.
white house / flickr
"Abolishing slavery by constitutional provisions settles the fate for all coming time. Not only of the millions now in bondage, but of unborn millions to come", sagte Obamas großes Vorbild Lincoln vor der Abstimmung über die Abschaffung der Sklaverei. Um diese Langzeitwirkung scheint es auch dem amtierenden Präsidenten immer wieder zu gehen. Fühlen sich die Gesetze oft zunächst angesichts der Probleme unzureichend an? Klar, aber von Obamacare, einmal umgesetzt und verankert, werden noch Generationen von Amerikanern profitieren. Dass auch nach den acht Jahren für Obamas Nachfolger(in) noch viel zu tun bleibt, ist aber auch klar.Stefan Sasse: Wenn man Clinton ansieht, der wirklich nicht viel zu Wege gebracht hat außer nur wenig in den Sand zu setzen und auch keine Katastrophen von seinem Vorgänger geerbt hat und heute als Heiliger verehrt wird, so sollte Obama eigentlich in spätestens einer Dekade der neue Franklin D. Roosevelt der Democrats sein, ganz besonders, wenn das Weiße Hause zwischendurch republikanisch besetzt wird.
Du vergisst aber in deiner Medienschelte noch, dass die wertfreie Darstellung beider Seiten ein Phänomen ist, das bei weitem nicht alle Medien-Outlets betrifft. Fox News und MSNBC sind offensichtlich parteiisch, und die New York Times und die Washington Post unterhalten ebenfalls exzessive Meinungskolumnen (andere große US-Zeitungen lese ich nicht regelmäßig, irgendwann ist die Zeit alle).
Aber, um die Frage von Obamas "long game" zum Abschluss zu bringen: es bleibt faszinierend, wie er mit den widrigen Umständen arbeitet und wie wenige Leute seine Politik tatsächlich verstehen (also die politics, nicht die policy). Er wird massiv von allen Seiten kritisiert, sowohl von rechts als auch von links, und kämpft gegen eine ungewöhnlich destruktive Opposition an, die ihn aus tiefster Seele hasst - kein Vergleich zur Wohlfühl-Konsens-Demokratie einer Angela Merkel. Seine langfristige Planung, die von den ständigen Skandalwolken des täglichen Politikbetriebs etwas abgehoben ist (und ihm diesen abgehobenen Touch gibt) mag die einzige Möglichkeit sein, auf diese Situation zu reagieren, wenn man seine ambitionierte Reformagenda umsetzen will.
Ich bezweifle jedenfalls, dass eine Hillary Clinton soviel erreicht haben würde wie er. Nur noch einmal zum Mitschreiben: Irak-Krieg beendet, Krankenversicherung für alle eingeführt, Stimulus für die Wirtschaft 2009, Abschaffung von "Don't ask, don't tell", offener Kampf für die Gleichstellung der Homo-Ehe. Der Afghanistan-Abzug ist auf 2014 festgelegt. Alles Dinge, die er sich 2008 vorgenommen hat. Was hat Merkel von den Dingen umgesetzt, die sie sich 2009 vorgenommen hat?
Jan Falk: Wir sollten gar nicht erst den Versuch unternehmen, Merkels Bilanz mit der Obamas zu vergleichen. Nur zwei Werte, die uns demnächst noch öfter beschäftigen werden. Arbeitslosenquote 04/2013 US: 7.6%, EU: 12%. Merkels Politik ist in gewisser Weise auch nachhaltig: Sie ruiniert nachhaltig die Euro-Zone.