Stewart O’Nan ist ein Autor der stillen Worte und dazu ein feinsinniger Beobachter der amerikanischen Gegenwartskultur. Handlungsgetriebene Plots darf man von ihm nicht erwarten. Statt dessen geht er den umgekehrten Weg und reduziert sich seit Jahren Buch um Buch weiter auf das Elementare. Seit „Letzte Nacht“ ist das kaum noch möglich – herausgekommen ist ein minimalistischer und einfühlsamer Blick auf die Arbeitswelt der kleinen Leute.
Klappentext
Ein grauer Winterabend Ende Dezember. Zum letzten Mal öffnet Manny, der Leiter eines kleinen Restaurants, die Tür, kontrolliert die Fritteuse, den Grill und die Eismaschine. Zum letzten Mal kommen die Angestellten zur Arbeit und binden sich ihre Schürzen um. Zum letzten Mal geht das Leben der Menschen im „Red Lobster“ seinen gewohnten Gang, bevor es sich für immer verändern wird.
Der erste Satz
Ein grauer Wintertag, der Verkehr am Einkaufszentrum ist zum Erliegen gekommen.
Eine Zeitungsrezension hatte mich seinerzeit neugierig gemacht auf den Mann, den Stephen King als einen seiner besten Freunde bezeichnet. Eine ungewöhnliche Freundschaft, denn anders als sein berühmter Kollege arbeitet sich O’Nan akribisch an der realen Alltagswelt ab und setzt nicht auf Spannung, sondern auf feine Charakterzeichnungen. Die Personen, denen er sich widmet, werden oft durch besondere Ereignisse aus ihrer gewohnten Gefühlswelt herausgerissen, sei es durch den Verlust eines Menschen (Alle, alle lieben dich) oder des Arbeitsplatzes wie in „Letzte Nacht“.
Manny führt eine Filiale der „Red Lobster“ Restaurantkette. Der Standort ist rentabel und wird dennoch geschlossen. Zu verstehen ist das nicht, weder von Manny, noch den Stammgästen und erst recht nicht von den übrigen Angestellten. Eine Handvoll von ihnen durfte Manny benennen; diese werden wie er auf andere Niederlassungen verteilt. Der Rest muss gehen. So ist das in den USA. Mit Beginn der letzten Schicht zieht ein Schneesturm heran, der Verkehr auf dem nahegelegenem Highway fließt nur spärlich. Viel Kundschaft ist an einem solchen Tag nicht zu erwarten aber Manny will in Würde den Schlüssel herumdrehen und erwartet noch einmal das Beste von jedem einzelnen. Einige seiner Angestellten sind erst gar nicht mehr zum Dienst erschienen, andere gehen frühzeitig, um vor dem Unwetter zuhause zu sein. „Letzte Nacht“ entfaltet sich als intimes Kammerstück um die verbleibende Rumpfbesetzung.
Allen voran Manny, der als Paradebeispiel verinnerlichter Unternehmensphilosophie auch in den letzten Stunden seinen Gästen den gewohnten Service bieten möchte. Er muss dazu keinen Gehorsam erzwingen. Ihm folgt man, weil er so ist, wie er ist – ein grundanständiger Kerl, der zuhört und versteht und sich selber zerreißt. Kein böses Wort kommt über seine Lippen. Weder über die unsichtbare Konzernspitze noch über den Barkeeper, der die Gunst der Stunde nutzt und einige Flaschen mitgehen lässt. Mit einem kaum zu begreifenden Sanftmut führt er das Restaurant, als ginge es morgen weiter und als würde er nicht zum einfachen Angestellten degradiert werden.
Seitenlang beschreibt O’Nan jeden einzelnen Handgriff, seziert die Arbeitsabläufe und die Eigenarten der Systemgastronomie bis ins Kleinste. Das ist kein Lesevergnügen, das wird beinahe selbst zur Arbeit. Aber er verharrt nicht in dieser Dokumentation, sondern zeigt die kleinen Abweichungen und Ausbrüche von dieser Routine als das wirklich Ereignishafte an diesem Tag. Es findet kein Aufbegehren statt, aber man spürt den Anwesenden an, wie gerne sie es täten und wie sie nur Manny zuliebe darauf verzichten und sich mit ihren Gefühlen still abfinden. Extrem nah und einfühlsam entwirft O’Nan das Bild jedes Einzelnen, grenzt es voneinander ab und verleiht ihm eine Tiefe, die angesichts des geringen Umfangs außergewöhnlich ist. Das sind keine Stereotypen, sondern Menschen die Angst um ihre Existenz haben und von O’Nan mit einer Liebe und Achtung gezeichnet werden, die ihnen zusteht.
In einem größeren Kontext betrachtet wirft „Letzte Nacht“ ein erschreckend ungeschminktes Bild auf die Ohnmacht der „Lower Working Class“ in den USA – ohne qualifizierte Ausbildung ausgestattet bleiben die meisten von der Willkür des Arbeitgebers abhängig. Der Verlust des Arbeitsplatzes gefährdet damit auch gleichzeitig die eigene Existenz. Wie sich ein Mensch fühlt, der am Rande des Abgrunds steht und in eine unsichere Zukunft blicken muss, das zeigt „Letzte Nacht“.
Was bleibt?
„Letzte Nacht“ ist ein Krisenroman vor der erst noch anrollenden Wirtschaftskrise und von O’Nan so geschrieben, wie es vielleicht nur einer aus dem niedergangserprobten Pittsburgh schreiben kann – schicksalsergeben, würdevoll und unaufgeregt. Doch es sind beileibe nicht nur die nahe gehenden Einzelschicksale, die im Gedächtnis haften bleiben. O’Nan ist ein Meister der Atmosphäre. Wie der Schnee nach und nach den Verkehr lahmlegt und neben den Geräuschen auch die Emotionen dämpft bis nur noch eine sanfte Traurigkeit verbleibt, ist unglaublich eindrücklich geschrieben und macht dieses dünne Buch zu etwas Besonderem.
O’Nan, Stewart: Letzte Nacht (Original: Last Night at the Lobster). Aus dem Amerikanischen von Thomas Gunkel. Erstmals erschienen 2007.
Taschenbuchausgabe: Rowohlt. 160 Seiten. ISBN 978-3-499-24898-6. € 8,99.