Die Nyingma-Tradition enthält die Lehren, die Padmasambhava nach Tibet gebracht und dort den 25 HauptschülerInnen übertragen hat. Diese Lehren wurden dann entweder bis in unsere Zeit mündlich tradiert und diese Linie wird „kama“ – mündliche Überlieferung – genannt oder einige Lehren wurden von ihm und seiner tibetischen Gefährtin Yeshe Tsogyal an verschiedenen Stellen Tibets oder in den vier Elementen oder auch im Geist der 25 Hauptschüler verborgen, damit sie dann zu geeigneter Zeit entdeckt und den Wesen entsprechend der Umstände offenbart werden. Diese Tradition wird „terma“ – Schatztradition – genannt. Diese Terma-Tradition ist auch noch bis in unsere Zeit aktiv und so wurden im 20. Jhdt. verschiedenste Termas offenbart. Ein weiterer Aspekt der Überlieferung ist auch die der Dakini-Übertragung oder Dakini-Offenbarung und die der „reinen Schau“ oder auch „reine Vision“ genannt. Dabei empfängt der Tertön – der Schatzfinder (kann auch weiblich sein) – in einer Vision die Lehren direkt von der ursprünglichen Buddha-Natur in Form von Samantabhadra o.ä.
Entwicklungsweg
Der Entwicklungsweg wird bei den Nyingmas in die neun Yanas – Shravakayana, Pratyekabuddhayana, Bodhisattvayana, die drei Yanas der drei äußeren Tantras (Kriya, Upa, Yoga) und in die drei Yanas der drei inneren Tantras (Maha, Anu, Ati) – eingeteilt.
Die esoterischen Lehren der inneren Tantras werden in Sicht, Meditation und Verhalten eingeteilt und sind in Praktiken mit und ohne Merkmale zusammengefasst. Weiters gibt es die beiden Systeme des Pfades der Gewissheit durch Methoden und des Pfades der völligen Befreiung durch Weisheit. Dann gibt es den Pfad des oberen Tors, der die sechs Chakras verwendet und den Pfad des unteren Tors, der mit seinen vier Zweigen alles veredelt.
Am Pfad der Befreiung gibt es jene, die einen Stufenweg praktizieren und jene, die eine unmittelbare, direkte Praxis verwirklichen. Dabei liegt der Schwerpunkt auf der Sicht. Die meditative Versenkung ist die hingebungsvolle Meditation und die letztendliche Vollendung. Die fünf Objekte der Meditation von großer Leerheit, Mitgefühl-Illusion, einzelne Mudra, ausführliche Mudra und Versammlungspraxis korrespondieren mit den drei Stufen von Geburt, Zwischenzustand und Tod. Dabei gibt es sowohl grobe als auch subtile Arten der Verfeinerung. Die grobe Art ist in der Praxis der Erzeugungsstufe zusammengefasst und die subtile Art ist in den Praktiken der Vollendungsstufe enthalten.
Praxisablauf
Nach den grundlegenden Übungen folgt die Meditation der Erzeugungsstufe auf Ebene des Mahayoga in Form der Drei-Wurzel-Praxis auf Guru, Deva und Dakini. Hat man darin eine gewisse Fertigkeit erlangt und so die unreinen Erscheinungen in eine reine Schau verwandelt, dann setzt man mit den Übungen der Vollendungsstufe des Anuyoga fort und praktiziert die Kanäle und Winde mittels der Übung der inneren Hitze. Anschließend folgt das Abschmelzen und Aufsteigen der Tropfen und die Praxis der Vier Freuden. Weitere Praktiken sind die Übungen des Traum-Yoga, Klar-Licht, Illusionskörper, Bardo und Phowa (Bewusstseinsübertragung). Durch diese Methoden wird die illusionsgleiche Natur alle Phänomene erkannt und die Mandalas im eigenen Leib realisiert. Schließlich folgt die Praxis des Atiyoga – Dzogpa Chenpo – der Großen Vollkommenheit durch die drei Dzogchen-Klassen – der Geist-Klasse (semde), der Raum-Klasse (longde) und der Klasse der mündlichen Anweisungen (menngagde). Bei der Geist-Klasse gibt es die Praxis der vier Yogas, die ähnlich dem stufenweisen Yoga der Mahamudra ist. Dann gibt es in der Raum-Klasse die Praxis der vier Zeichen, die keinen Stufenpfad darstellen. Und schließlich gibt es die Praxis der mündlichen Anweisungen. Die Praxis der drei Klassen erfolgt durch Kadag Trekchö und Lhündrub Thögal. Die Frucht dabei ist die Realisation der Untrennbarkeit von ursprünglicher Reinheit und spontaner Klar-Deutlichkeit der Phänomene.
Praxisermächtigung
Dieser Ablauf der esoterischen Praxis wird durch das Empfangen der vier Ermächtigungen – der Vaseneinweihung, der geheimen Einweihung, der Weisheits-Bewusstseins-Einweihung und der kostbaren Worteinweihung – eingeleitet. Auf diese Weise werden die drei Tore – Körper, Rede und Geist – sowie die subtilen Verschleierungen bereinigt und die Samen für eine Realisation der vier Kayas – Nirmanakaya, Sambhogakaya, Dharmakaya und Svabhavikakaya – gelegt.