Nuris 1. Auftritt: Das Kurzgeschichten-Experiment beginnt

1. Ist der Ruf erst ruiniert

Montage waren zum Kotzen. Nicht erst seit ein paar rechte Spinner auf ihren verfickten Wir-sind-das-Volk-Demos Hass-Parolen durch die City brüllten. Montags in der ersten Stunde hatte Nuri Französisch mit dem Kurzkämper. Und diesen Montag hatte er die Französischarbeit im Gepäck. Zuerst teilte er die besten aus. Nuris Arbeit lag ganz unten. Immer. Diesmal legte er Nuri das nahezu leere Blatt kopfschüttelnd und mit einem arroganten Aus-dir-wird-sowieso-nichts-Lächeln auf den Tisch. »Reife Leistung, Herr Heggemann.«

Nuri lehnte sich zurück, legte die Füße auf den Tisch und grinste Kurzkämper an. »Liegt an ihrem lahmen Unterricht.« Die Klasse grölte. Kurzkämpers Gesicht wechselte innerhalb von Sekunden von kalkweiß zur Farbe von Lilis Kirschohrringen.

Vier von fünfzig Punkten. Damit hatte er seinen eigenen Negativ-Rekord geknackt. Warum war er heute Morgen nicht gleich liegen geblieben? Nach dieser Arbeit stand er in drei Hauptfächern fünf. Das Jahr war gelaufen. Sein Alter würde ausrasten, vielleicht sogar die Drohung wahrmachen und Nuri vor die Tür setzen. Zum zweiten Mal in der Neunten gescheitert. Machte sich super im Lebenslauf. Eine Karriere als Star-Anwalt wie sein Alter, konnte er von der Liste streichen. Vielleicht sollte er sich irgendwo Nachhilfestunden im Hartz-IV-Anträge ausfüllen geben lassen. Aus der Klassenarbeit faltete Nuri einen Papierflieger und ließ ihn Richtung Papierkorb segeln. Er landete unter Lilis Stuhl und blieb dort bis zum Ende der Stunde.

Nach dem Unterricht hielt Kurzkämper ihn zurück. »Ich will ein Gespräch mit deinem Vater.«

»Der wird begeistert sein«, antwortete Nuri.

»Ich weiß, dass du mehr drauf hast als kiffen und Scheiße bauen. Aber im Moment steuerst du ungebremst auf den Abgrund zu.«

Nuri wandte sich Richtung Tür. »Danke für die Warnung.«

»Denk an die Unterschrift«, rief Kurzkämper ihm hinterher.

Fick dich!, dachte Nuri steckte Kopfhörer in die Ohren, zog die Kapuze seines Hoodies tief in die Stirn und schlenderte aus dem Schulgebäude. Scheiße. Erst neun. Ob Motte schon wach war? Kurzkämper würde unter Garantie sofort den Alten anrufen. Auf die Tracht Prügel konnte Nuri verzichten. Vielleicht sollte er heute lieber nicht zu Hause pennen.

Er stieg in die Straßenbahn Richtung Plagwitz. Vormittags war die fast leer. Nuri schickte eine Nachricht an Motte und drehte sich eine Kippe.

An der Naumburger stieg er aus und zündete sie an. Die Sanierungsarbeiten zur Aufwertung des Stadtteils hatten die nächste Plagwitzer Häuserzeile erreicht. Ein Teil der Straße war bereits aufgerissen. Männer mit dunklen Gesichtern und schmutzigen Latzhosen brüllen sich über die Baggergeräusche hinweg auf Russisch an. Noch wirkte alles ein wenig ranzig hier, wie der letzte Teil der Bevölkerung, der ausharrte und hoffte, nicht entsorgt zu werden. Bald wäre der Weg frei für die nächsten ökologisch abbaubaren Spießer, die den letzten Ranz des Stadtteils feierten und als Shabby-Chick in InstaStorys posteten.

Der militante Widerstand hatte die seit Jahrzenten leerstehenden Bruchbuden besetzt, um den Umbau in restaurierte Juppi-Wohnungen mit überteuerten Mieten zu verhindern. Und dann, vor einigen Tagen, war Nuris Vater gegen die Hausbesetzer vor Gericht gezogen. Motte und den anderen drohte die Obdachlosigkeit, denn bezahlbarer Wohnraum für Verlierer war knapp.

Es gab keine Klingel. Nuri stemmte sich gegen die klemmende Eingangstür und drückte sie auf. Im Flur roch es nach Muff. Die Wände waren mit Graffitis besprüht und einige Fenster mit Pappe verklebt.

Im ersten Obergeschoss hämmerte Nuri gegen Mottes Wohnungstür. Er hatte bisher nicht auf die Nachricht geantwortet. Aber wo sollte er sonst sein? »Bist du wach?«, rief Nuri.

Er hörte Geräusche aus dem Inneren, doch erst Minuten später öffnete Motte mit rotunterlaufenen Augen. »Ey, Bruda, was geeeht?« Dabei zog er die Worte genauso breit, wie er selbst anscheinend -morgens halb zehn in Deutschland – war.

»Kann ich reinkommen?«

»Mi casa es su casa.« Motte hielt die Tür auf.

Auf ihn war Verlass. Vor zwei Jahren hatte er ihn im Jugendzentrum kennengelernt. Sein genaues Alter konnte Nuri nur schätzen. Vielleicht zwanzig. Ohne Schulabschluss, ohne Job, aber zufrieden mit dem, was er zum Leben auf der Straße fand. In seinem Regal standen Bücher von Marx und Nietzsche, an den untapezierten Wänden hingen Fahnen mit dem Konterfei von Che Guevara und dem rot-schwarzen Antifa-Logo.

»Danke, Mann.« Nuri inhalierte die süßliche Duftwolke, die den Muff der alten Bruchbude überdeckte. Hier roch es immer nach Freiheit.

»Musste nich in der Schule sein?« Beim Grinsen entblößte Motto tabakgelbe Zähne. Der rechte Eckzahn fehlte. Eine Erinnerungslücke, die er sich bei einer Demo von ein paar randalierenden Nazis zugezogen hatte.

»Jap.« Nuri warf den Rucksack in eine Ecke und zog ein Päckchen Tabak aus der Tasche.

»Na, wenn das dein Papi wüsste.«

»Der schmeißt mich eh raus.«

»Schon wieder?«  

»Hey komm, das letzte Mal ist fast ein Jahr her.« Kurz vor der Dinner-Party seiner Eltern mit dem größten Immobilien-Hai der Umgebung, hatte Nuri sich die Ohren mit einer Lochzange durchstochen und seine brave Föhnfrisur gegen einen giftgrünen Iro ausgetauscht. Die Finger seines Alten hatte Nuri drei Tage später noch als blaugrüne Abdrücke im Gesicht.

Schmunzelnd ließ er sich aufs Sofa fallen und ignorierte die undefinierbaren Flecken darauf. Aus Papier, etwas Pappe, einem daumenbreit Tabak und einer Portion aus Mottes Gärtnerei-Vorrat baute er seine persönliche »Tüte des Vergessens«. Er sollte dem Alten ein Selfie schicken, wie er mit dem Klassenfeind die Friedenspfeife rauchte. Grinsend schob Nuri ein paar leere Dosen zur Seite, legte die Füße auf den Tisch und zündete den Joint an. Er inhalierte den harzig-bitteren Qualm, hielt ihn so lange wie möglich in den Lungen, bevor er ihn langsam auspustete und sich sanft von den Wellen ins Paradies tragen ließ.

»Was haste angestellt?«, fragte Motte über den Rand der Bierdose hinweg. »Das Au-pair-Mädchen gepoppt?«

Nuri lachte. »Auch. Aber ich werd die Klasse nicht schaffen.«

»Respekt, Digga! Ich hab die Siebte dreimal angefangen, bevor sie mich als hoffnungslosen Fall abgeschrieben haben.«

»Das beruhigt mich jetzt.« Nuri lehnte sich zurück. Asche fiel aufs Sofa. »Mein Klassenlehrer hasst mich, seit ich ihn gefragt hab, ob er aufhört zu meckern, wenn er sich seinen Ziegenbart abrasiert.«

Motte hob grinsend die Bierdose und salutierte. »Herzlichen Glückwunsch. Du bist jetzt offiziell einer von denen, die nicht ins System passen.«

»Da habe ich noch nie reingepasst«, entgegnete Nuri, nahm einen tiefen Zug und reichte den Joint an Motte weiter. Das war ja das Problem mit den Systemen. Er war schon vor der Geburt auf dem falschen Weg. Den Kopf nach oben, aufrecht. Nicht angepasst. Mit dieser Einstellung war ihm in der Grundschule der Stammplatz vor dem Klassenzimmer reserviert und den hatte er bis zur Neunten nicht mehr abgegeben. Dabei hatten sie im Bildungsfernsehen gesagt, „wer nicht fragt, bleibt dumm“. Aber wer Fragen stellt, stört das System. Was wollten sie nun alle von ihm – Sollte er Kotzen oder Schlucken?

»Was haste jetzt vor?«, fragte Motte. Er pustete Rauchwölkchen zur Decke.

»Kein Plan.« Die Luft wurde süßlich schwer, genau wie Nuris Körper. Er legte den Kopf auf der Sofalehne ab, damit der Raum aufhörte, sich zu drehen. »Mein Alter wird mich erst windelweich prügeln und dann auf ne Privatschule für versnobte Schwerverbrecher schicken. Aber«, Nuri warf Motte ein extrabreites Grinsen zu, »dort haben wir garantiert zahlungskräftige Kundschaft für unsere kleine Gärtnerei.«

Motte reichte Nuri den Joint zurück. »Dein Optimismus kotzt mich an.«

»Das ist Urvertrauen, Junge«, entgegnete Nuri, nahm einen letzten tiefen Zug und schloss die Augen. Rumheulen war auch Scheiße. Der Rauch hüllte das Zimmer vollständig in graue Schwaden. Irgendwo im Hof bellten Hunde, darunter mischte sich Vogelgezwitscher, nebenan lief Musik, irgendwas Schnelles im 4/4-Takt mit verzerrten Power Chords. Nur die Tastentöne von Mottes Handy störten das chillige Ambiente.

Am späten Nachmittag waren sie im Auftrag der Gärtnerei unterwegs und fuhren mit der Straßenbahn Richtung Lindenau. Motte fuhr schwarz. Grundsätzlich. Er stellte die abgewetzten Boots auf den Sitz vor sich und bohrte in der Nase. Was er fand, schnipste er weg, direkt auf den schwarzen Mantel einer aufgebrezelten Blonden mit falschen Wimpern und gefakter Gucci-Handtasche.

»Pff.« Nuri hielt sich die Hand vor den Mund. Bist du erst mal soweit unten, kannst du dir alles erlauben.

»Ey, was glotzt’n so?«, grölte Motte die Frau an. »Willste meine Nummer?«

Hastig wandte sie den Blick ab.

»Na so was. Erst anmachen und dann die kalte Schulter zeigen, wa?« Er beugte sich zu ihr, legte den Kopf schräg.

Ihr Gesicht lief rot an. Der Mann gegenüber reichte ihr ein Taschentuch und warf Motte einen verächtlichen Blick zu.

»Sach doch gleich, dass du’n Stecher hast!«

Nuri boxte Motte in die Seite. »Komm, lass gut sein. Sie heult gleich.« Dass er immer übertreiben musste.

»Aber vielleicht haste ja’n bissel Kleingeld?«

Die Frau drückte ihre Tasche fester an die Brust, den Blick starr aus dem Fenster gerichtet. Aus dem Off kam die Haltestellendurchsage.

Motte sprang auf. »Bis bald ma«, sagte er und entblößte mit einem schiefen Lächeln seine Erinnerungslücke. Als sich die Straßenbahntür schloss, schickte er ihr einen Mittelfinger hinterher.

Nuri konnte die Erleichterung im Gesicht der Frau erkennen. »Warum hast du sie angemacht?«

»Weil ich’s kann«, sagte Motte. »Und weil die Alte garantiert rechts wählt.«

»Woran hast du das erkannt?«

»Gucci-Handtasche und Straßenbahn passt nicht. Die wär doch gern mehr, als sie ist. Und Ali ist schuld, weil Ali kriegt Geld für‘n neues Handy und sie kann sich nur Fake-Gucci leisten. Klare Sache. Los komm, Björn wartet beim NETTO auf sein Zeug.«

Dort, neben den Einkaufswagen stand Björn und starrte aufs Handy. Ein hagerer Kerl im Hemd. Mit dem halbrunden Haarkranz am Hinterkopf sah er aus wie … der Kurzkämper. Krassgeil. Diesen Ziegenbart würde Nuri überall wiedererkennen. Das war der Jackpot. Ein kribbliger Schauer lief ihm den Rücken hinunter.

»Geh mal vor! Ich komm gleich.«

Motte schaute ihn verwundert an, erwiderte aber nichts.

Hinter einem Auto filmte Nuri das kleine Übergabegeschäft zwischen Kurzkämper und Motte. Dann schlenderte er auf die beiden zu. Kurzkämper hob den Blick. In Sekundenbruchteilen verwandelte sich der überraschte Ausdruck seines Gesichtes in Erkenntnis, dass er am Arsch war.

Nuri konnte sich das Grinsen nicht verkneifen, als er ihm das Handydisplay vor die Nase hielt. »Bin gespannt, wie schnell das Video in der Schule die Runde macht. Vielleicht reden wir doch noch mal über meine Versetzung, oder Björn?«


Fortsetzung folgt…

Hier habt ihr die Geschichte noch mal zum Nachhören.

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