Nur Statisten – keine Spieler

Wenn ich auf dem steilen Fussweg vom Beri River hochsteige, so sehe ich den Baum gleich nach der letzten Biegung. Ich spüre seine Magie, ich rieche den Schweiss der Männer, ich höre den kühlen Wind vom Himalaya im Laub. Er hat einen dicken Stamm, weit ausladende Äste und eine grob zerfurchte Rinde. Reichlich Schatten spendet das dichte Blattwerk – es ist ein Rastbaum, ein Pipal Tree. Der Baum ragt aus einer Plattform aus gestampfter Erde, die von einer Mauer abgegrenzt wird und das Ganze sieht aus wie eine Podium oder eine Theaterbühne.

Auf diesem Podium ruhen sich Männer aus. Es sind vor allem Träger, sie haben alle einen Korb dabei, geflochten aus Binsen oder Bambusrohr. Die Männer sind zwischen zwanzig und dreissig Jahre alt, kräftig und zerlumpt. Sie sitzen jeden Tag da. Den ganzen Tag. Es sind nicht immer dieselben Träger. Dieselben sitzen eigentlich nicht lange, aber die die nach ihnen kommen, die die kurz vorher gegangen sind – alle sehen sie gleich aus. Gleiche Träger. Mit grauen, geflickten und halblangen Hosen, mit zerschlissenen Hemden, einige mit ärmellosem Wams. Barfuss. Der eine oder andere hat ein turbanartiges Tuch um den Kopf geschlungen, alle sind nass vom Schweiss, von der Last. Sie tragen Steinplatten für das Dach eines Hauses, Reis für einen reichen Herrn, Bücher für eine Schule, Salz für den Markt. Unter dem Baum jedoch, da ist Rast. Unbeweglich sitzen sie da, und sie wirken wie unbeteiligt, wie nicht dazugehörig, wie Teil der Landschaft, wie – Statisten.

Es hat noch andere Statisten. Da ist der alte Mann im Laden etwa fünf Schritte unterhalb des Baumes. Er ist ärmlich und recht sauber angezogen. Niemand scheint seine Batterien, Biskuits und Seifen zu brauchen. Er sitzt da und wartet. Wovon lebt er bloss? Oder ist er einfach Teil des Ladens, so wie das Gestell, der Hocker, der zerzauste Regenschirm am Pfosten? Statist.

Dann sind da die fünf Frauen, die sich unterhalten, der Eseltreiber, der zwischen seinen grasenden Tieren herumlungert, die zwei kauzigen Typen, die am Bord auf dem Steinmäuerchen kauern und ihre schwarzen Pfeife rauchen. Auch sie alle: Statisten.

Gepflegt im traditionellen Korta suruval, sitzen sie da die drei älteren Herren. Schon ihr Kleid bezeugt, dass sie zu den Herrschenden im Ort gehören, dass sie das Geld und das Sagen haben. Auch sie wirken hier als Statisten: wie Teil des Bildes, wie Hintergrund, vor dem sich die tatsächliche Handlung abspielt.

Die tatsächliche Handlung in diesem Film findet nicht statt. Oder besser: genau das ist die Handlung. Es gibt nichts sonst. Die Handlung besteht aus Statisten. Was für ein unheimliches Gefühl. Hast du schon einmal einen Film gesehen, wo es nur Statisten gibt? Ich beginne mich zu fragen, ob die Menschen das selber vielleicht anders sehen. Nein. Sie erleben sich als Teil eines Dorfes, Teil einer Familie, Teil eines Kollektivs. Alle zusammen ergeben das Werk, das Leben, das Sein. Die einzelnen Menschen auf der Mauer, unter dem Baum, am Hang – sie sind nur losgelöste Teilchen, die man einzeln weder versteht noch gebraucht, wie man ein einzelnes Puzzleteil nicht verwenden kann. Sinn macht nur das Ganze.

Und ich selber? Mit meinem Individualismus, meinem Auftrag? Ein Fremdkörper in diesem Bild. Hier werde ich auch zum Statisten. Keiner kann oder soll die Hauptrolle spielen. Man kann nur seine Maske entgegennehmen – und bei mir steht drauf: Fremdling. Statist.

Aber vielleicht ist es im Leben immer so.

 

Die Geschichte entstand in Nepal. Von 93-96 habe ich mit meiner Familie in einem abgelegenen Bergtal in Jajarkot gelebt.


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