Aus dem Editorial, das mit diesen Sätzen beginnt, soll etwas ausführlicher zitiert werden:
„Ob es Gott gibt (oder Götter), welches Geschlecht Gott hat, wie Gott heißt, sind Glaubensfragen, über die es unerbittliche Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Glaubensrichtungen, aber auch zwischen Gläubigen und Atheisten gibt. Religion bietet vielen Menschen einen normativen Orientierungsrahmen, den Nichtgläubige beispielsweise im atheistischen Humanismus finden.”
Es folgen Fragen, wie: „Warum und in welchen Lebenslagen haben Menschen das Bedürfnis nach Transparenz? (…) Inwiefern bedürfen Moral und Ethik einer religiösen Fundierung?”
Abschließend schreibt Asiye Öztürk: „Immer wieder neu zu klären bleibt, (…) wie zeitgemäß das Staatskirchenrecht angesichts der Pluralisierung und Individualisierung von religionsformen ist. Umstritten ist auch, ob Religionen einen besonderen Schutz vor Schmähungen genießen: Wie viel Religionskritik kann – und muss – eine säkulare und demokratische Gesellschaft aushalten?” (S. 2)
Plädoyers für und wider Religion
Es folgen zwei Plädoyers für und wider Religion. Zum Beitrag des Publizisten Robert Misik „Gegen Gott” merkte die Redaktion an: „Misik betont, dass Menschen keinen Gott brauchen, um Unrecht als unerträglich zu empfinden; auch sieht er kaum Anhaltspunkte dafür, dass der Nutzen der Religionen ihren Schaden aufwiegt.” (S. 3)
Dem ist aus humanistischer (und nichtreligiöser) Weltsicht und Lebensanschauung voll zuzustimmen! Auch der konsequenten Schlußfolgerung Misiks selbst: „Die Religionen sind somit, noch in ihren mildesten und aufgeklärtesten Ausprägungen, Einfallstore für Obskurantismus. (…) Und alle zusammen mögen sie sich auch mit der Botschaft der Liebe schmücken, stoßen die schlimmsten Verwünschungen aus, wenn sie mit den Ungläubigen konfrontiert sind.” Und dennoch, so schreibt er weiter, „hält sich die fixe Idee in vielen Köpfen, dass gläubige Leute irgendwie leichter moralisch Kurs im Leben halten können.” (S. 4)
Misik setzt sich argumentativ mit den hierzulande gängigen Behauptungen von Religionsführern und gutgläubigen Kirchenmitgliedern auseinander. Sein Beitrag ist gerade deshalb eine gute Handreichung für Laizisten.
Gänzlich anders dagegen der Artikel von Nikolaus Schneider, Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland. Dieser kommt aber gleich mit dem ersten Satz auf den Punkt: „Ich halte die öffentliche Präsenz von Religion im öffentlichen Raum für unverzichtbar.” (S. 6) Was scheinbar harmlos klingt, meint aber den ungebrochenen Machtanspruch des hohen Klerus über Mensch, Gesellschaft und Staat! Da sich dieser in nahezu 2000 Jahren an alle gesellschaftlichen Wandlungen anzupassen vermag, sofern an diese nicht das Macht- und Wirtschaftsimperium Kirche antastet, behauptet Schneider dreist und die Geschichte negierend: „…gehören christlicher Glaube und Religion zu den Voraussetzungen des demokratischen Rechtsstaates…” (S. 6) Also, dann sind also Staaten ohne christliche Religion NIE rechtsstaatlich und demokratisch…
Schneider singt dann – ganz wortgewaltiger sonntäglicher Kanzelredner – das Hohelied auf die christlichen Großkirchen, verdammt „Säkularität” und erst recht „Laizität”, denn gerade die Kirchen würden ja so viel Gutes für Mensch, Gesellschaft und Staat tun. Was er verschweigt, u.a. daß als die barmherzigen und wohltätigen Leistungen seiner Organisation zu 90 und mehr Prozent aus öffentlichen Kassen bezahlt werden… Im Übrigen, „Privilegien” (von ihm in Anführungszeichen gesetzt) kann er nicht erkennen und die Kirchen seien auch keine Religionslobbyisten…
Schließlich gar behauptet Schneider, daß die Zivilgesellschaft das Werk der Kirchen sei. Da fragt sich nur, warum diese denn nicht schon im ersten „nachristlichen” Jahrtausend für Sklavenbefreiung, mündige Staatsbürger und demokratische Verhältnisse, für allgemeine Bildung etc. eingesetzt haben. Die Macht dazu hätten sie ja gehabt.
Nach etlichen geistigen Pirouetten, wie sie für Theologen üblich sind, kommt Schneider in diesem Lehrbeispiel für theologische Rabulistik zu der abschließenden Behauptung: „Öffentliche Religion wirkt als ‚Balsam für die Seele‘ und als ‚Protestation‘ für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung.” (S. 9)
Dies ist alles in allem einer der drei schwächsten Beiträge dieses Sonderheftes. Aber das fromme Gepredige wird sicherlich offene Ohren bei den willigen Lobbyisten des Klerus in Medien und Parteien finden. Stehen für die christlichen Kirchen nicht in Wirklichkeit solche Fakten, wie Intoleranz, Bejahung der Sklaverei und der Frauenunterdrückung schon in den so hochgelobten „Zehn Geboten” oder die Missionierung unter dem Motto „Taufe oder Tod”, oder die Parole auf den Koppelschlössern der Soldaten „Gott mit uns”…
Anmerkungen zu Religion und Säkularismus steuern der Philosoph Wilfried Hinsch („Glaube und Legitimität in liberalen Demokratien”) und die Österreicherin Ariane Sadjed („Fallstricke der Säkularisierung”) bei. Abgesehen von Hinsch‘ Diffamierung des Laizismus ist seinen Begriffsbestimmungen (Politisches, Öffentliches) und seinen Überlegungen zum Problem „bekenntnisgebundener Wissenschaften” (insbesondere zur staatlichen Anerkennung als „wissenschaftliche Hochschule”), am konkreten Beispiel des Kreationismus voll beizupflichten.
Für Ariane Sadjed sind dagegen die Trennung von Religion und Staat lediglich „vermeintliche Rezepte und Lösungen”.
Religiosität, Religion, Sinnsuche
Der Philosoph Geert Hendrich hat seinen Beitrag überschrieben mit „Religiosität und Sinnsuche in modernen Gesellschaften”. Er geht von solchen Zahlen des Religionsmonitors 2008 aus, „die in der Öffentlichkeit den Eindruck befördert haben, unsere modernen, säkularen Gesellschaften erlebten eine Renaissance des Religiösen”. (S. 20)
Hendrich greift die These von der „Leit- und ethischen Funktion der Religion” auf und kommt, bezugnehmend auf soziologische Begriffe (Religionsersatz und Ersatzreligion) zu seiner Schlußfolgerung: „Von dieser Erkenntnis her lassen sich die Zahlen des Religionsmonitors 2008 anders interpretieren denn als ‚Wiederkehr der Religion‘: Heute bedeutet ‚religiös sein‘ nicht mehr dasselbe wie ‚Religion haben‘ (…) [und] dass hinter der medial beförderten Rede von der ‚Sinnkrise‘ der modernen Gesellschaft TATSÄCHLICHE Fragen der Individuen stehen (…) unter den Lebensbedingungen unserer Gesellschaft.” (S. 22)
Man müsse sich die Bedingungen einer für den Einzelnen immer unübersichtlicher immer bedrohlicher scheinenden Welt hineindenken, um die neuen Formen von Religiosität verstehen zu können. Aber – so schreibt er, „schon der Theologe Paul Tillich wies darauf hin, dass Religion als Sinnressource nichts zur Verfügung stellt, was nicht auch Ethik, Philosophie und sogar die Kunst zu bieten hätten.” (S. 22)
Das erkläre auch die immer größere Diskrepanz und Distanz zwischen sich als religiös bezeichnenden Menschen und den etablierten christlichen Großkirchen.
Der Anspruch letzterer sowie die Auslassungen klerusfreundlicher Politiker und Medien beruht eben auch auf bewußt unscharf gehaltenen Begriffen, wie Glauben, Religiosität, Religion, Christentum.
Laut Hendrich sind gerade deshalb die „zahlreichen neuen Formen von ‚Religiosität‘ als Religionsersatz das schwächste Indiz für [die unermüdlich behauptete; SRK] ‚Wiederkehr der Religionen‘.” (S. 24)
Ausführlich geht der Autor auf den religiösen Fundamentalismus ein und bezieht diesen keinesfalls nur auf den Fundamentalismus im Islam.
Er widerspricht auch der These, daß „die Säkularisierung die Hauptverantwortung für moralischen und sozialen Verfall habe – und nicht etwa die kapitalistische Konkurrenzgesellschaft.” Und kommt damit zu der überaus wichtigen und richtigen Frage, „ob denn in der modernen Kultur tatsächlich ‚nur die Religionen die moralische Substanz des Einzelnen‘ und die ‚Homogenität der Gesellschaft‘ garantieren können.” (S. 27) Seine Antwort liegt bereits in dieser Frage!
Gegen Hendriks Ausführungen laufen gleich zwei Theologen Sturm; Rolf Schieder und Hendrik Meyer-Magister mit ihrem Artikel „Neue Rollen der Religion in modernen Gesellschaften”. Auch dieser Beitrag ist ein Lehrbeispiel theologischer Rabulistik. Geschickt werden Daten und Fakten mit priesterlichem Wunschdenken vermischt und verdreht.
Eine Kostprobe: „Bei näherer Betrachtung der Einstellungen der 700 Millionen religiös nicht gebundenen in China [chinesische Statistiken sprechen von etwa 1,1 Milliarden religionsfreier Menschen; SRK] kommt man ebenfalls zum Nachdenken: So gehen mit größter Selbstverständlichkeit 44 Prozent dieser Chinesen am nationalen Grabpflegetag an das Grab ihrer Ahnen…” (S. 29) Und werden so per Federstrich von deutschen Theologen zu Religiösen erklärt. Im Übrigen, auch im kapitalistischen Südkorea betrachten sich rund 60 Prozent der Menschen als religionsfrei…
Eine weitere Kostprobe: „Von Kirchenzugehörigkeit kann nicht auf Glaubensintensität geschlossen werden. (…) In den vergangenen 20 Jahren sind in Deutschland mehr Kirchenglocken gegossen worden als in den 100 Jahren zuvor. Diese Glocken fanden fast ausnahmslos ihren Bestimmungsort in den Glockenstühlen von Dorfkirchen in den östlichen Bundesländern. Das muss überraschen, denn nach wie vor gehören 75 Prozent der ostdeutschen Bevölkerung keiner Kirche an.” (S. 30) – Nun. Klerus und klerusfreundliche Politik setzen eben alles daran, Missionierungswillen zu bekunden und zu fördern, auch wenn die Finanzierung unter dem Deckmantel der Denkmalspflege erfolgt und nicht etwa aus dem Milliardenvermögen dieser Kirchen…
Diesem Beitrag schließt sich ein Artikel der Theologin Birgit Heller an: „Zwischen Diskriminierung und Geschlechtergleichheit – Frauen und Religionen”. Zu Recht schreibt sie: „Ohne die Schar der weiblichen Gläubigen und ihre Dienste wären die meisten Religionen nicht überlebensfähig.” (S. 35) Aber dann kommt es dicke mit der Behauptung, daß bereits in der Bibel die Gleichheit von Mann und Frau, festgeschrieben sei. Es folgt ein Plädoyer für „feministische Theologien”…
Kirche, Politik, „Staatskirchenrecht”
Im Gegensatz dazu findet man im Essay der Theologin Sabine Dehmel sehr kritische Feststellungen zur Verfaßtheit der katholischen Kirche: „Individuum und Kirche – Ohne Zutrauen und Vertrauen in die Menschen keine Anziehungskraft!” Was sie allerdings völlig außer Betracht läßt, die katholische Kirche ist eine absolute Theokratie, die ihren totalen Machtanspruch eben nicht demokratisch von den Menschen herleitet, sondern von einem imaginären transzendenten Wesen, und einem ebenso imaginären „Gottessohn” mit dem Bischof von Rom als „Stellvertreter Christi auf Erden”…
Die Autorin spricht z.B. die „Pastorale Raumplanung 2025 im Bistum Augsburg” an, die ohne jegliche Beteiligung des „Gottesvolkes” vom Bischof selbstherrlich festgelegt worden sei. Dieser habe auch festgelegt, „dass die Pfarrgemeinderäte ab sofort kein beschließendes Stimmrecht mehr haben.” Denn, so der Bischof unumwunden in einem Interview: „Kirche ist keine Demokratie. Das ist leider ein Mißverständnis.” (S. 41)
Aber heißt es nicht im bundesdeutschen Mainstream immer wieder, daß die Kirchen, daß das Christentum die Urheber von Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaat seien? Nun, wer die Macht hat, kann unbesorgt auch sehr offen reden.
Anja Hennig von der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder schreibt „Zum Verhältnis von Religion und Politik in Europa” schreibt Anja Hennig von der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder. Ausgehend von der Luther’schen Reformation und den Augsburger Religionsfrieden (seither hatte sich die konfessionelle Zugehörigkeit eines Gebietes nach der des jeweiligen Landesherren zu richten) schlägt sie über die Säkularierungen im Zuge der Französischen Revolution den Bogen in die Gegenwart. Und sie gibt einen komprimierten und aussagekräftigen Überblick über die „Genese christlicher Parteien” in verschiedenen Ländern unseres Kontinentes.
Widerspruch rufen aber solche Sätze hervor wie: „Die Kirchen werden weiterhin gebraucht, denn nicht zuletzt spielen sie in Deutschland im sozialen und karitativen Bereich eine tragende Rolle. ‚Gebraucht werden die Kirchen aber auch von vielen Nichtreligiösen wie etwa für Bestattungen…” (S. 47)
Gegenfragen: Wer finanziert dieses Engagement eigentlich? Warum sind die kirchlichen Einrichtungen tragend? Gibt es nicht auch religionsfreie Träger? Und leisten säkulare Träger nicht Gleiches – und ohne auf Sonderrollen zu pochen? Gibt es denn gar keine Angebote für weltliche Bestattungsredner?
Insofern ist dieser Beitrag mehr als unredlich!
Kirchenpropaganda kommt in Deutschland nicht ohne die sogenannten Staatskirchenrechtler aus, deren Hauptaufgabe darin besteht, die Ansprüche und Privilegien des Klerus juristisch abzusichern. Was mit Hilfe z.B. insbesondere der bundesdeutschen Gerichte auf wundervolle Weise auch immer wieder gelingt. Man denke nur daran, wie aus einem organisationsinternen Selbstverwaltungsrecht (siehe Weimarer Verfassung und Grundgesetz) ein totales Selbstbestimmungsrecht vor allem Betriebe und Einrichtungen in kirchlichem Besitz gemacht wurde.
Aber es gibt inzwischen Gegenwehr, erste kleine Erfolge gegen diesen totalen Anspruch durch jüngste, wenngleich halbherzige, Entscheidungen von Arbeitsgerichten. Wohl daher hat der Jura-Professor Stefan Mückl seinen Beitrag mit „Aktuelle Herausforderungen für das Staatskirchenrecht” überschrieben.
Er singt hierin ein Hohelied auf die bestehenden Zustände. Und vergißt die verfassungswidrigen Realitäten zu erwähnen, siehe Kirchensteuereinzug. Hier wird seit der Machtübertragung an die deutschen Faschisten – im Gefolge des ebenfalls bis heute gültigen Reichskonkordats – entgegen den verfassungsmäßigen Festlegungen verfahren.
Mückl geht kurz auch auf Entwicklungen in „Europa” ein und stellt fest, daß in der EU „die Phänomene ‚Kirche‘ und ‚Religion‘ primär in den Kategorien des Wirtschaftslebens wahrgenommen werden.” (S. 51)
Und das zu Recht! Denn zumindest die beiden Großkirchen sind ja seit der Antike nichts anderes Wirtschaftsunternehmen, vergleichbar mit anderen Großkonzernen!
Auch eine Fußnote auf S. 51 ist ganz interessant; sie soll unkommentiert wiedergegeben werden: „Hinzuweisen ist aber auch auf Erkenntnisse der empirischen Sozialwissenschaften, denen zufolge ‚das Gros der Muslime seinen Glauben ähnlich (lax) praktiziert wie Christen und Juden.”
Vor allem aber schreibt Mückl gegen die verfassungsgemäß gebotenen Forderungen zur Realisierung der Trennung von Staat und Kirche(n)/Religionen an. Stets mit den beiden Argumentationsmustern: „Ja, aber…” und „So wie es sich herausgebildet hat, so hat es sich dort bewährt…” Mit der schließlichen Behauptung, daß Nutznießer des Staatskirchenrechtes neben der Kirche doch auch der Staat sei. Da sei dem Rezensenten ausnahmsweise ein sehr laxer Kommentar gestattet: „Selten so gelacht!”
Anmerkungen zum Umgang mit Religion
Es folgt der neben dem Artikel von Robert Misik wohl beste Beitrag dieses Heftes, den Frieder-Otto Wolf in einer sehr eindeutigen und klaren Fragestellung formuliert hat: „Ist Religion unantastbar.” Wolf wird hier „nur” als Präsident der Humanistischen Akademie Deutschland vorgestellt. Sein Amt als Präsident der Weltanschauungsgemeinschaft HVD – Humanistischer Verband Deutschlands (die lt. WRV und GG den Religionsgemeinschaften gleichgestellt ist) wird jedoch unterschlagen.
Wolfs Beitrag ist von der ersten bis letzten Zeile lesenswert und sollte in den Medien aller Weltanschauungsgemeinschaften ungekürzt publiziert werden.
Im Gegensatz zu den religiös gebundenen Autoren dieses Heftes nennt er die Dinge und Verhältnisse hierzulande beim Namen, wirft konkrete Fragen auf und unterbreitet Vorschläge. So z.B. das System des „Staatskirchenrechts” abzuschaffen und stattdessen ein System des „Weltanschauungsrechts” zu schaffen.
Zur Tabufrage, ob Religion unantastbar sei, soll die von Wolf gegebene Antwort an dieser Stelle etwas ausführlicher zitiert werden:
„…bedeutet das, dass Religion oder auch Weltanschauung nicht als solche unantastbar sein kann. Unantastbar ist die Menschenwürde. Artikel 2 des Grundgesetzes führt nicht ohne guten Grund direkt im Anschluß an Artikel 1 das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, in der das Selbstbestimmungsrecht des Individuums enthalten ist, sowie die körperliche Unversehrtheit und die Freiheit der Person auf. Auch „Religionen” (oder auch „Weltanschauungen”), das heißt im Klartext die sie vertretenden Individuen oder Organisationen, müssen geradezu spätestens dann angetastet werden, wenn sie der Menschenwürde des Individuums zuwiderhandeln.
Das geschieht überall dort, wo Vertreter einer Religion Gewalt anwenden oder Menschen durch sozialen Druck die Möglichkeit vorenthalten versuchen, sich in ihrem Leben und Denken ‚anders‘ und selbstbestimmt zu orientieren. (…)
Hierher gehört auch der in vielen Teilen Deutschlands noch alternativlose Religionsunterricht oder etwa Bestimmungen des kirchlichen Arbeitsrechts, durch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in persönlicher Moral und religiösen Entscheidungen auch dort, wo sie nicht als weltanschauliche Repräsentanten tätig sind, an die Weltanschauung ihrer Träger gebunden werden. (…)
Religionsfreiheit bleibt durch die Menschenrechte begrenzt, und Religionskritik muß bei aller Schärfe den inneren Kern der religiösen Bindung als solchen akzeptieren. Das ist auf dem Welt von Religionen und Weltanschauungen offenbar das Einfache, das so schwer zu machen ist.” (S. 56)
„Die etwas andere Gretchenfrage” stellt Stephan J. Kramer, der Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland, und liefert mit seinem Beitrag ein drittes Lehrbeispiel für theologische Rabulistik ab. Er arbeitet sich an der Beschneidungsdebatte ab und beklagt die „ungeheuerliche These, die jüdische oder moslemische Beschneidung [von Knaben; SRK] sei der Verstümmelung weiblicher Genitalien bei der sogenannten Mädchenbeschneidung gleichzusetzen.” (S. 57)
Desweiteren behauptet er, daß Religionen „grundlegende Bestimmungen zu Moral, Ethik und menschlicher Koexistenz” enthalten. (…) die Zehn Gebote schaffen eine moralische Grundlage, die bis heute für die ganze Menschheit Geltung hat. (…) Religion also als Bollwerk gegen Tyrannei und Überheblichkeit (…) das gehört zu den Werten, die wir dem Glauben entnehmen können.” (S. 57/58) Nicht zuletzt offenbart er, daß das Alte Testament den Rechtsstaat begründet habe…
Was diktieren die bewußten Zehn Gebote? Nun, Intoleranz, Sklaverei, die Frau als Eigentum des Mannes so wie sie Sklaven und das Vieh auch. Und wie nannten sich rings um das Mittelmeer die feudalen Herrscher? „Wir von Gottes Gnaden!” Und was stand auf den Koppelschlössern der deutschen Wehrmacht? Auf wen beriefen sich Pinochet u.a. Gewaltherrscher?
Nun, auch darauf gibt es von Kramer eine rabulistische Antwort aus fünf Worten: „Vor Mißbrauch ist nichts geschützt.” (S. 58)
Um so vehementer wettert er gegen den Laizismus und die Laizisten…
Um „Religionskritik und -offenheit in den Medien” geht es im Beitrag des Journalisten Christoph Strack. Sollte es dem Titel nach gehen. Das tut es aber nicht! Die Wirklichkeit wird ausgeblendet, denn, so der Autor ganz ehrlich, „die medialen Meinungsmacher betrachten das Christentum unabhängig von der eigenen Religiosität als legitime Kraft zur Sicherung der öffentlichen Moral. Die Kirchen seien ‚wesentliche zivilgesellschaftliche [soso; SRK] Kraft in einer Situation des Umbruchs‘ und könnten Orientierung geben, in dem sie helfen, die eigene religiös-kulturelle Identität zu stärken.” (S. 60)
Man kann es aber auch nicht verklausuliert sagen: Auch und nicht zuletzt über die Medien wirkt der Klerus dafür, daß die da unten nicht gegen die da oben aufbegehren!
Schwach ist leider auch der letzte Beitrag „Von Religionskritik zur Diffamierung” von Nilden Vardar. Sie hätte ihn besser mit (in Anführungszeichen gesetzt) „Islamkritik” überschreiben sollen. Das hätte ihr Anliegen besser getroffen.
Zuzustimmen ist der Autorin ohne Wenn und Aber hier: „Kritik, die in dieser Frage den Blick ausschließlich auf den Islam richtet und patriarchale Strukturen in anderen Religionen oder nicht-religiösen Systemen außen vor läßt, setzt sich zumindest dem Verdacht aus, dass es sich dabei nicht um das Problem (die Stellung der Frau in der Gesellschaft) an sich geht, sondern um den Ausschluß einer bestimmten religiösen Gruppe.” (S. 62)
Trotz aller Einwände gegen die interessenbedingten Auslassungen offizieller Religionsvertreter ist dieses Beilagenheft insgesamt doch eine lesenswerte Schrift. Hervorzuheben ist, daß eben nicht nur Vertreter der beiden sogenannten Amtskirchen (und politisch korrekt Vertreter von Judentum und Islam) zu Wort kommen. Lobenswert ist es, daß sich auch religionsfreie Menschen und vor allem der Repräsentant einer großen Weltanschauungsgemeinschaft äußern durften.
Siegfried R. Krebs
Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament”. Ausgabe 24/2013 vom 10. Juni 2013. 62 Seiten. (hier als pdf zum Download)