Nur einer hat die Tabu-Frage gestellt: Ist Religion unantastbar?

aPuZ63Die Ausgabe 24/2013 von „Aus Politik und Zeitgeschichte“ ist dem Thema „Religion und Moderne“ gewid­met. Die hier­für ver­ant­wort­li­che Redakteurin Asiye Öztürk hat in ihrem Editorial bemer­kens­werte Feststellungen getrof­fen und auch wichtige/richtige Fragen gestellt. Doch der heute und hier­zu­lande ent­schei­den­den Frage, ob Religion unan­tast­bar ist, ist sie aus­ge­wi­chen. Dieses blieb ein­zig Frieder Otto Wolf vom Humanistischen Verband Deutschlands vor­be­hal­ten.

Aus dem Editorial, das mit die­sen Sätzen beginnt, soll etwas aus­führ­li­cher zitiert wer­den:

„Ob es Gott gibt (oder Götter), wel­ches Geschlecht Gott hat, wie Gott heißt, sind Glaubensfragen, über die es uner­bitt­li­che Auseinandersetzungen zwi­schen ver­schie­de­nen Glaubensrichtungen, aber auch zwi­schen Gläubigen und Atheisten gibt. Religion bie­tet vie­len Menschen einen nor­ma­ti­ven Orientierungsrahmen, den Nichtgläubige bei­spiels­weise im athe­is­ti­schen Humanismus fin­den.”

Es fol­gen Fragen, wie: „Warum und in wel­chen Lebenslagen haben Menschen das Bedürfnis nach Transparenz? (…) Inwiefern bedür­fen Moral und Ethik einer reli­giö­sen Fundierung?”

Abschließend schreibt Asiye Öztürk: „Immer wie­der neu zu klä­ren bleibt, (…) wie zeit­ge­mäß das Staatskirchenrecht ange­sichts der Pluralisierung und Individualisierung von reli­gi­ons­for­men ist. Umstritten ist auch, ob Religionen einen beson­de­ren Schutz vor Schmähungen genie­ßen: Wie viel Religionskritik kann – und muss – eine säku­lare und demo­kra­ti­sche Gesellschaft aus­hal­ten?” (S. 2)

Plädoyers für und wider Religion

Es fol­gen zwei Plädoyers für und wider Religion. Zum Beitrag des Publizisten Robert Misik „Gegen Gott” merkte die Redaktion an: „Misik betont, dass Menschen kei­nen Gott brau­chen, um Unrecht als uner­träg­lich zu emp­fin­den; auch sieht er kaum Anhaltspunkte dafür, dass der Nutzen der Religionen ihren Schaden auf­wiegt.” (S. 3)

Dem ist aus huma­nis­ti­scher (und nicht­re­li­giö­ser) Weltsicht und Lebensanschauung voll zuzu­stim­men! Auch der kon­se­quen­ten Schlußfolgerung Misiks selbst: „Die Religionen sind somit, noch in ihren mil­des­ten und auf­ge­klär­tes­ten Ausprägungen, Einfallstore für Obskurantismus. (…) Und alle zusam­men mögen sie sich auch mit der Botschaft der Liebe schmü­cken, sto­ßen die schlimms­ten Verwünschungen aus, wenn sie mit den Ungläubigen kon­fron­tiert sind.” Und den­noch, so schreibt er wei­ter, „hält sich die fixe Idee in vie­len Köpfen, dass gläu­bige Leute irgend­wie leich­ter mora­lisch Kurs im Leben hal­ten kön­nen.” (S. 4)

Misik setzt sich argu­men­ta­tiv mit den hier­zu­lande gän­gi­gen Behauptungen von Religionsführern und gut­gläu­bi­gen Kirchenmitgliedern aus­ein­an­der. Sein Beitrag ist gerade des­halb eine gute Handreichung für Laizisten.

Gänzlich anders dage­gen der Artikel von Nikolaus Schneider, Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland. Dieser kommt aber gleich mit dem ers­ten Satz auf den Punkt: „Ich halte die öffent­li­che Präsenz von Religion im öffent­li­chen Raum für unver­zicht­bar.” (S. 6) Was schein­bar harm­los klingt, meint aber den unge­bro­che­nen Machtanspruch des hohen Klerus über Mensch, Gesellschaft und Staat! Da sich die­ser in nahezu 2000 Jahren an alle gesell­schaft­li­chen Wandlungen anzu­pas­sen ver­mag, sofern an diese nicht das Macht- und Wirtschaftsimperium Kirche antas­tet, behaup­tet Schneider dreist und die Geschichte negie­rend: „…gehö­ren christ­li­cher Glaube und Religion zu den Voraussetzungen des demo­kra­ti­schen Rechtsstaates…” (S. 6) Also, dann sind also Staaten ohne christ­li­che Religion NIE rechts­staat­lich und demo­kra­tisch…

Schneider singt dann – ganz wort­ge­wal­ti­ger sonn­täg­li­cher Kanzelredner – das Hohelied auf die christ­li­chen Großkirchen, ver­dammt „Säkularität” und erst recht „Laizität”, denn gerade die Kirchen wür­den ja so viel Gutes für Mensch, Gesellschaft und Staat tun. Was er ver­schweigt, u.a. daß als die barm­her­zi­gen und wohl­tä­ti­gen Leistungen sei­ner Organisation zu 90 und mehr Prozent aus öffent­li­chen Kassen bezahlt wer­den… Im Übri­gen, „Privilegien” (von ihm in Anführungszeichen gesetzt) kann er nicht erken­nen und die Kirchen seien auch keine Religionslobbyisten…

Schließlich gar behaup­tet Schneider, daß die Zivilgesellschaft das Werk der Kirchen sei. Da fragt sich nur, warum diese denn nicht schon im ers­ten „nachrist­li­chen” Jahrtausend für Sklavenbefreiung, mün­dige Staatsbürger und demo­kra­ti­sche Verhältnisse, für all­ge­meine Bildung etc. ein­ge­setzt haben. Die Macht dazu hät­ten sie ja gehabt.

Nach etli­chen geis­ti­gen Pirouetten, wie sie für Theologen üblich sind, kommt Schneider in die­sem Lehrbeispiel für theo­lo­gi­sche Rabulistik zu der abschlie­ßen­den Behauptung: „Öffent­li­che Religion wirkt als ‚Balsam für die Seele‘ und als ‚Protestation‘ für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung.” (S. 9)

Dies ist alles in allem einer der drei schwächs­ten Beiträge die­ses Sonderheftes. Aber das fromme Gepredige wird sicher­lich offene Ohren bei den wil­li­gen Lobbyisten des Klerus in Medien und Parteien fin­den. Stehen für die christ­li­chen Kirchen nicht in Wirklichkeit sol­che Fakten, wie Intoleranz, Bejahung der Sklaverei und der Frauenunterdrückung schon in den so hoch­ge­lob­ten „Zehn Geboten” oder die Missionierung unter dem Motto „Taufe oder Tod”, oder die Parole auf den Koppelschlössern der Soldaten „Gott mit uns”…

Anmerkungen zu Religion und Säkularismus steu­ern der Philosoph Wilfried Hinsch („Glaube und Legitimität in libe­ra­len Demokratien”) und die Öster­rei­che­rin Ariane Sadjed („Fallstricke der Säkularisierung”) bei. Abgesehen von Hinsch‘ Diffamierung des Laizismus ist sei­nen Begriffsbestimmungen (Politisches, Öffent­li­ches) und sei­nen Über­le­gun­gen zum Problem „bekennt­nis­ge­bun­de­ner Wissenschaften” (ins­be­son­dere zur staat­li­chen Anerkennung als „wis­sen­schaft­li­che Hochschule”), am kon­kre­ten Beispiel des Kreationismus voll bei­zu­pflich­ten.

Für Ariane Sadjed sind dage­gen die Trennung von Religion und Staat ledig­lich „ver­meint­li­che Rezepte und Lösungen”.

Religiosität, Religion, Sinnsuche

Der Philosoph Geert Hendrich hat sei­nen Beitrag über­schrie­ben mit „Religiosität und Sinnsuche in moder­nen Gesellschaften”. Er geht von sol­chen Zahlen des Religionsmonitors 2008 aus, „die in der Öffent­lich­keit den Eindruck beför­dert haben, unsere moder­nen, säku­la­ren Gesellschaften erleb­ten eine Renaissance des Religiösen”. (S. 20)

Hendrich greift die These von der „Leit- und ethi­schen Funktion der Religion” auf und kommt, bezug­neh­mend auf sozio­lo­gi­sche Begriffe (Religionsersatz und Ersatzreligion) zu sei­ner Schlußfolgerung: „Von die­ser Erkenntnis her las­sen sich die Zahlen des Religionsmonitors 2008 anders inter­pre­tie­ren denn als ‚Wiederkehr der Religion‘: Heute bedeu­tet ‚reli­giös sein‘ nicht mehr das­selbe wie ‚Religion haben‘ (…) [und] dass hin­ter der medial beför­der­ten Rede von der ‚Sinnkrise‘ der moder­nen Gesellschaft TATSÄCHLICHE Fragen der Individuen ste­hen (…) unter den Lebensbedingungen unse­rer Gesellschaft.” (S. 22)

Man müsse sich die Bedingungen einer für den Einzelnen immer unüber­sicht­li­cher immer bedroh­li­cher schei­nen­den Welt hin­ein­den­ken, um die neuen Formen von Religiosität ver­ste­hen zu kön­nen. Aber – so schreibt er, „schon der Theologe Paul Tillich wies dar­auf hin, dass Religion als Sinnressource nichts zur Verfügung stellt, was nicht auch Ethik, Philosophie und sogar die Kunst zu bie­ten hät­ten.” (S. 22)

Das erkläre auch die immer grö­ßere Diskrepanz und Distanz zwi­schen sich als reli­giös bezeich­nen­den Menschen und den eta­blier­ten christ­li­chen Großkirchen.

Der Anspruch letz­te­rer sowie die Auslassungen kle­rus­freund­li­cher Politiker und Medien beruht eben auch auf bewußt unscharf gehal­te­nen Begriffen, wie Glauben, Religiosität, Religion, Christentum.

Laut Hendrich sind gerade des­halb die „zahl­rei­chen neuen Formen von ‚Religiosität‘ als Religionsersatz das schwächste Indiz für [die uner­müd­lich behaup­tete; SRK] ‚Wiederkehr der Religionen‘.” (S. 24)

Ausführlich geht der Autor auf den reli­giö­sen Fundamentalismus ein und bezieht die­sen kei­nes­falls nur auf den Fundamentalismus im Islam.

Er wider­spricht auch der These, daß „die Säkularisierung die Hauptverantwortung für mora­li­schen und sozia­len Verfall habe – und nicht etwa die kapi­ta­lis­ti­sche Konkurrenzgesellschaft.” Und kommt damit zu der über­aus wich­ti­gen und rich­ti­gen Frage, „ob denn in der moder­nen Kultur tat­säch­lich ‚nur die Religionen die mora­li­sche Substanz des Einzelnen‘ und die ‚Homogenität der Gesellschaft‘ garan­tie­ren kön­nen.” (S. 27) Seine Antwort liegt bereits in die­ser Frage!

Gegen Hendriks Ausführungen lau­fen gleich zwei Theologen Sturm; Rolf Schieder und Hendrik Meyer-Magister mit ihrem Artikel „Neue Rollen der Religion in moder­nen Gesellschaften”. Auch die­ser Beitrag ist ein Lehrbeispiel theo­lo­gi­scher Rabulistik. Geschickt wer­den Daten und Fakten mit pries­ter­li­chem Wunschdenken ver­mischt und ver­dreht.

Eine Kostprobe: „Bei nähe­rer Betrachtung der Einstellungen der 700 Millionen reli­giös nicht gebun­de­nen in China [chi­ne­si­sche Statistiken spre­chen von etwa 1,1 Milliarden reli­gi­ons­freier Menschen; SRK] kommt man eben­falls zum Nachdenken: So gehen mit größ­ter Selbstverständlichkeit 44 Prozent die­ser Chinesen am natio­na­len Grabpflegetag an das Grab ihrer Ahnen…” (S. 29) Und wer­den so per Federstrich von deut­schen Theologen zu Religiösen erklärt. Im Übri­gen, auch im kapi­ta­lis­ti­schen Südkorea betrach­ten sich rund 60 Prozent der Menschen als reli­gi­ons­frei…

Eine wei­tere Kostprobe: „Von Kirchenzugehörigkeit kann nicht auf Glaubensintensität geschlos­sen wer­den. (…) In den ver­gan­ge­nen 20 Jahren sind in Deutschland mehr Kirchenglocken gegos­sen wor­den als in den 100 Jahren zuvor. Diese Glocken fan­den fast aus­nahms­los ihren Bestimmungsort in den Glockenstühlen von Dorfkirchen in den öst­li­chen Bundesländern. Das muss über­ra­schen, denn nach wie vor gehö­ren 75 Prozent der ost­deut­schen Bevölkerung kei­ner Kirche an.” (S. 30) – Nun. Klerus und kle­rus­freund­li­che Politik set­zen eben alles daran, Missionierungswillen zu bekun­den und zu för­dern, auch wenn die Finanzierung unter dem Deckmantel der Denkmalspflege erfolgt und nicht etwa aus dem Milliardenvermögen die­ser Kirchen…

Diesem Beitrag schließt sich ein Artikel der Theologin Birgit Heller an: „Zwischen Diskriminierung und Geschlechtergleichheit – Frauen und Religionen”. Zu Recht schreibt sie: „Ohne die Schar der weib­li­chen Gläubigen und ihre Dienste wären die meis­ten Religionen nicht über­le­bens­fä­hig.” (S. 35) Aber dann kommt es dicke mit der Behauptung, daß bereits in der Bibel die Gleichheit von Mann und Frau, fest­ge­schrie­ben sei. Es folgt ein Plädoyer für „femi­nis­ti­sche Theologien”…

Kirche, Politik, „Staatskirchenrecht”

Im Gegensatz dazu fin­det man im Essay der Theologin Sabine Dehmel sehr kri­ti­sche Feststellungen zur Verfaßtheit der katho­li­schen Kirche: „Individuum und Kirche – Ohne Zutrauen und Vertrauen in die Menschen keine Anziehungskraft!” Was sie aller­dings völ­lig außer Betracht läßt, die katho­li­sche Kirche ist eine abso­lute Theokratie, die ihren tota­len Machtanspruch eben nicht demo­kra­tisch von den Menschen her­lei­tet, son­dern von einem ima­gi­nä­ren tran­szen­den­ten Wesen, und einem ebenso ima­gi­nä­ren „Gottessohn” mit dem Bischof von Rom als „Stellvertreter Christi auf Erden”…

Die Autorin spricht z.B. die „Pastorale Raumplanung 2025 im Bistum Augsburg” an, die ohne jeg­li­che Beteiligung des „Gottesvolkes” vom Bischof selbst­herr­lich fest­ge­legt wor­den sei. Dieser habe auch fest­ge­legt, „dass die Pfarrgemeinderäte ab sofort kein beschlie­ßen­des Stimmrecht mehr haben.” Denn, so der Bischof unum­wun­den in einem Interview: „Kirche ist keine Demokratie. Das ist lei­der ein Mißverständnis.” (S. 41)

Aber heißt es nicht im bun­des­deut­schen Mainstream immer wie­der, daß die Kirchen, daß das Christentum die Urheber von Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaat seien? Nun, wer die Macht hat, kann unbe­sorgt auch sehr offen reden.

Anja Hennig von der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder schreibt „Zum Verhältnis von Religion und Politik in Europa” schreibt Anja Hennig von der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder. Ausgehend von der Luther’schen Reformation und den Augsburger Religionsfrieden (seit­her hatte sich die kon­fes­sio­nelle Zugehörigkeit eines Gebietes nach der des jewei­li­gen Landesherren zu rich­ten) schlägt sie über die Säkularierungen im Zuge der Französischen Revolution den Bogen in die Gegenwart. Und sie gibt einen kom­pri­mier­ten und aus­sa­ge­kräf­ti­gen Über­blick über die „Genese christ­li­cher Parteien” in ver­schie­de­nen Ländern unse­res Kontinentes.

Widerspruch rufen aber sol­che Sätze her­vor wie: „Die Kirchen wer­den wei­ter­hin gebraucht, denn nicht zuletzt spie­len sie in Deutschland im sozia­len und kari­ta­ti­ven Bereich eine tra­gende Rolle. ‚Gebraucht wer­den die Kirchen aber auch von vie­len Nichtreligiösen wie etwa für Bestattungen…” (S. 47)

Gegenfragen: Wer finan­ziert die­ses Engagement eigent­lich? Warum sind die kirch­li­chen Einrichtungen tra­gend? Gibt es nicht auch reli­gi­ons­freie Träger? Und leis­ten säku­lare Träger nicht Gleiches – und ohne auf Sonderrollen zu pochen? Gibt es denn gar keine Angebote für welt­li­che Bestattungsredner?

Insofern ist die­ser Beitrag mehr als unred­lich!

Kirchenpropaganda kommt in Deutschland nicht ohne die soge­nann­ten Staatskirchenrechtler aus, deren Hauptaufgabe darin besteht, die Ansprüche und Privilegien des Klerus juris­tisch abzu­si­chern. Was mit Hilfe z.B. ins­be­son­dere der bun­des­deut­schen Gerichte auf wun­der­volle Weise auch immer wie­der gelingt. Man denke nur daran, wie aus einem orga­ni­sa­ti­ons­in­ter­nen Selbstverwaltungsrecht (siehe Weimarer Verfassung und Grundgesetz) ein tota­les Selbstbestimmungsrecht vor allem Betriebe und Einrichtungen in kirch­li­chem Besitz gemacht wurde.

Aber es gibt inzwi­schen Gegenwehr, erste kleine Erfolge gegen die­sen tota­len Anspruch durch jüngste, wenn­gleich halb­her­zige, Entscheidungen von Arbeitsgerichten. Wohl daher hat der Jura-Professor Stefan Mückl sei­nen Beitrag mit „Aktuelle Herausforderungen für das Staatskirchenrecht” über­schrie­ben.

Er singt hierin ein Hohelied auf die beste­hen­den Zustände. Und ver­gißt die ver­fas­sungs­wid­ri­gen Realitäten zu erwäh­nen, siehe Kirchensteuereinzug. Hier wird seit der Machtübertragung an die deut­schen Faschisten – im Gefolge des eben­falls bis heute gül­ti­gen Reichskonkordats – ent­ge­gen den ver­fas­sungs­mä­ßi­gen Festlegungen ver­fah­ren.

Mückl geht kurz auch auf Entwicklungen in „Europa” ein und stellt fest, daß in der EU „die Phänomene ‚Kirche‘ und ‚Religion‘ pri­mär in den Kategorien des Wirtschaftslebens wahr­ge­nom­men wer­den.” (S. 51)

Und das zu Recht! Denn zumin­dest die bei­den Großkirchen sind ja seit der Antike nichts ande­res Wirtschaftsunternehmen, ver­gleich­bar mit ande­ren Großkonzernen!

Auch eine Fußnote auf S. 51 ist ganz inter­es­sant; sie soll unkom­men­tiert wie­der­ge­ge­ben wer­den: „Hinzuweisen ist aber auch auf Erkenntnisse der empi­ri­schen Sozialwissenschaften, denen zufolge ‚das Gros der Muslime sei­nen Glauben ähn­lich (lax) prak­ti­ziert wie Christen und Juden.”

Vor allem aber schreibt Mückl gegen die ver­fas­sungs­ge­mäß gebo­te­nen Forderungen zur Realisierung der Trennung von Staat und Kirche(n)/Religionen an. Stets mit den bei­den Argumentationsmustern: „Ja, aber…” und „So wie es sich her­aus­ge­bil­det hat, so hat es sich dort bewährt…” Mit der schließ­li­chen Behauptung, daß Nutznießer des Staatskirchenrechtes neben der Kirche doch auch der Staat sei. Da sei dem Rezensenten aus­nahms­weise ein sehr laxer Kommentar gestat­tet: „Selten so gelacht!”

Anmerkungen zum Umgang mit Religion

Es folgt der neben dem Artikel von Robert Misik wohl beste Beitrag die­ses Heftes, den Frieder-Otto Wolf in einer sehr ein­deu­ti­gen und kla­ren Fragestellung for­mu­liert hat: „Ist Religion unan­tast­bar.” Wolf wird hier „nur” als Präsident der Humanistischen Akademie Deutschland vor­ge­stellt. Sein Amt als Präsident der Weltanschauungsgemeinschaft HVD – Humanistischer Verband Deutschlands (die lt. WRV und GG den Religionsgemeinschaften gleich­ge­stellt ist) wird jedoch unter­schla­gen.

Wolfs Beitrag ist von der ers­ten bis letz­ten Zeile lesens­wert und sollte in den Medien aller Weltanschauungsgemeinschaften unge­kürzt publi­ziert wer­den.

Im Gegensatz zu den reli­giös gebun­de­nen Autoren die­ses Heftes nennt er die Dinge und Verhältnisse hier­zu­lande beim Namen, wirft kon­krete Fragen auf und unter­brei­tet Vorschläge. So z.B. das System des „Staatskirchenrechts” abzu­schaf­fen und statt­des­sen ein System des „Weltanschauungsrechts” zu schaf­fen.

Zur Tabufrage, ob Religion unan­tast­bar sei, soll die von Wolf gege­bene Antwort an die­ser Stelle etwas aus­führ­li­cher zitiert wer­den:

„…bedeu­tet das, dass Religion oder auch Weltanschauung nicht als sol­che unan­tast­bar sein kann. Unantastbar ist die Menschenwürde. Artikel 2 des Grundgesetzes führt nicht ohne guten Grund direkt im Anschluß an Artikel 1 das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, in der das Selbstbestimmungsrecht des Individuums ent­hal­ten ist, sowie die kör­per­li­che Unversehrtheit und die Freiheit der Person auf. Auch „Religionen” (oder auch „Weltanschauungen”), das heißt im Klartext die sie ver­tre­ten­den Individuen oder Organisationen, müs­sen gera­dezu spä­tes­tens dann ange­tas­tet wer­den, wenn sie der Menschenwürde des Individuums zuwi­der­han­deln.

Das geschieht über­all dort, wo Vertreter einer Religion Gewalt anwen­den oder Menschen durch sozia­len Druck die Möglichkeit vor­ent­hal­ten ver­su­chen, sich in ihrem Leben und Denken ‚anders‘ und selbst­be­stimmt zu ori­en­tie­ren. (…)

Hierher gehört auch der in vie­len Teilen Deutschlands noch alter­na­tiv­lose Religionsunterricht oder etwa Bestimmungen des kirch­li­chen Arbeitsrechts, durch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in per­sön­li­cher Moral und reli­giö­sen Entscheidungen auch dort, wo sie nicht als welt­an­schau­li­che Repräsentanten tätig sind, an die Weltanschauung ihrer Träger gebun­den wer­den. (…)

Religionsfreiheit bleibt durch die Menschenrechte begrenzt, und Religionskritik muß bei aller Schärfe den inne­ren Kern der reli­giö­sen Bindung als sol­chen akzep­tie­ren. Das ist auf dem Welt von Religionen und Weltanschauungen offen­bar das Einfache, das so schwer zu machen ist.” (S. 56)

„Die etwas andere Gretchenfrage” stellt Stephan J. Kramer, der Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland, und lie­fert mit sei­nem Beitrag ein drit­tes Lehrbeispiel für theo­lo­gi­sche Rabulistik ab. Er arbei­tet sich an der Beschneidungsdebatte ab und beklagt die „unge­heu­er­li­che These, die jüdi­sche oder mos­le­mi­sche Beschneidung [von Knaben; SRK] sei der Verstümmelung weib­li­cher Genitalien bei der soge­nann­ten Mädchenbeschneidung gleich­zu­set­zen.” (S. 57)

Desweiteren behaup­tet er, daß Religionen „grund­le­gende Bestimmungen zu Moral, Ethik und mensch­li­cher Koexistenz” ent­hal­ten. (…) die Zehn Gebote schaf­fen eine mora­li­sche Grundlage, die bis heute für die ganze Menschheit Geltung hat. (…) Religion also als Bollwerk gegen Tyrannei und Über­heb­lich­keit (…) das gehört zu den Werten, die wir dem Glauben ent­neh­men kön­nen.” (S. 57/58) Nicht zuletzt offen­bart er, daß das Alte Testament den Rechtsstaat begrün­det habe…

Was dik­tie­ren die bewuß­ten Zehn Gebote? Nun, Intoleranz, Sklaverei, die Frau als Eigentum des Mannes so wie sie Sklaven und das Vieh auch. Und wie nann­ten sich rings um das Mittelmeer die feu­da­len Herrscher? „Wir von Gottes Gnaden!” Und was stand auf den Koppelschlössern der deut­schen Wehrmacht? Auf wen berie­fen sich Pinochet u.a. Gewaltherrscher?

Nun, auch dar­auf gibt es von Kramer eine rabu­lis­ti­sche Antwort aus fünf Worten: „Vor Mißbrauch ist nichts geschützt.” (S. 58)

Um so vehe­men­ter wet­tert er gegen den Laizismus und die Laizisten…

Um „Religionskritik und -offen­heit in den Medien” geht es im Beitrag des Journalisten Christoph Strack. Sollte es dem Titel nach gehen. Das tut es aber nicht! Die Wirklichkeit wird aus­ge­blen­det, denn, so der Autor ganz ehr­lich, „die media­len Meinungsmacher betrach­ten das Christentum unab­hän­gig von der eige­nen Religiosität als legi­time Kraft zur Sicherung der öffent­li­chen Moral. Die Kirchen seien ‚wesent­li­che zivil­ge­sell­schaft­li­che [soso; SRK] Kraft in einer Situation des Umbruchs‘ und könn­ten Orientierung geben, in dem sie hel­fen, die eigene religiös-kulturelle Identität zu stär­ken.” (S. 60)

Man kann es aber auch nicht ver­klau­su­liert sagen: Auch und nicht zuletzt über die Medien wirkt der Klerus dafür, daß die da unten nicht gegen die da oben auf­be­geh­ren!

Schwach ist lei­der auch der letzte Beitrag „Von Religionskritik zur Diffamierung” von Nilden Vardar. Sie hätte ihn bes­ser mit (in Anführungszeichen gesetzt) „Islamkritik” über­schrei­ben sol­len. Das hätte ihr Anliegen bes­ser getrof­fen.

Zuzustimmen ist der Autorin ohne Wenn und Aber hier: „Kritik, die in die­ser Frage den Blick aus­schließ­lich auf den Islam rich­tet und patri­ar­chale Strukturen in ande­ren Religionen oder nicht-religiösen Systemen außen vor läßt, setzt sich zumin­dest dem Verdacht aus, dass es sich dabei nicht um das Problem (die Stellung der Frau in der Gesellschaft) an sich geht, son­dern um den Ausschluß einer bestimm­ten reli­giö­sen Gruppe.” (S. 62)

Trotz aller Einwände gegen die inter­es­sen­be­ding­ten Auslassungen offi­zi­el­ler Religionsvertreter ist die­ses Beilagenheft ins­ge­samt doch eine lesens­werte Schrift. Hervorzuheben ist, daß eben nicht nur Vertreter der bei­den soge­nann­ten Amtskirchen (und poli­tisch kor­rekt Vertreter von Judentum und Islam) zu Wort kom­men. Lobenswert ist es, daß sich auch reli­gi­ons­freie Menschen und vor allem der Repräsentant einer gro­ßen Weltanschauungsgemeinschaft äußern durf­ten.

Siegfried R. Krebs

Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament”. Ausgabe 24/2013 vom 10. Juni 2013. 62 Seiten. (hier als pdf zum Download)

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