Nur an Montagen

oder Erfahrungen aus dem sozialistischen Jetset.
Hartz IV bedeutet für die Öffentlichkeit nur bedingt Arbeitslosigkeit und schon gar nicht Armut. Hartz IV ist gleichlautend mit Faulheit. Bezieher des Arbeitslosengeld II sind nicht arbeitslos, sie sind ganz einfach nur faul und bequem. Das Arbeitslosengeld ist letztlich für die öffentliche Wahrnehmung nichts anderes als eine Faulheitsalimente; die Stütze heißt gemäß dieser Lesart nicht Stütze, weil man sich von der Armut ermattet auf sie stützt, weil man sie sich unter den Arm klemmt, um nicht in die Gosse hineinzufallen, sondern weil man sich untätig auf ihr lümmelt.
Für mich war die mir unterstellte Faulheit eine schwere psychische Situation. Mir wurde sie nicht mal direkt nachgesagt, wahrscheinlich nur hinter dem Rücken. Aber medial zum faulen Sack verzerrt zu werden, ständig darüber zu lesen, wie ich in meiner Faulheit Betrugsideen entwerfen würde, wie ich mich vor Arbeit drückte und ganztägig auf dem Sofa verweste, das nahm ich persönlich. Vielleicht zu persönlich.

Möglicherweise auch, weil ich natürlich immer wusste, dass Fleiß nicht mein persönliches Alleinstellungsmerkmal war und ist. Ich bekenne mich durchaus zur Faulheit. Wie so viele andere auch. Wie all jene, die einen Arbeitsplatz hatten und von der Bummelei im kühlen Schatten oder wahlweise unter warmen Bettdecken träumten. Nur die durften ja ihre Faulheit verbal zur Schau tragen, am Arbeitsplatz untereinander ihren Faulheitsphantasmagorien nachhängen. Ich nicht. Ohne Arbeitsplatz gibt es keinen Anspruch darauf, die persönliche Faulheit zu verkündigen. Für die einen ist die Faulheit der verdiente Lohn; für Hartz IV-Bezieher ist es ein unterstellter ekelhafter Charakterzug, der sittliche Untergang des Abendlandes.
Anekdote: Als ich etwa zehn Jahre alt war, plante ich nach meiner Schule, in einer ganz speziellen Werkstatt mit meiner Ausbildung anzufangen. Ich hatte keine Ahnung, was dort gemacht wird, welche Berufe sie ausbilden oder ob sie überhaupt ausbilden. Mehr als dass es sich um eine Werkstatt handelte, um eine Werkstatthalle um genauer zu sein, wusste ich nicht. Bis heute weiß ich nicht mehr darüber. Was mir imponierte war ein Schild, das an der Fassade angebracht war. Auf dem stand Nur Montage. Und ich stellte es mir großartig vor, nur montags am Ausbildungsplatz erscheinen zu müssen. Mein Vater erstickte meine Absichten in Ernüchterung. Woher hätte ich wissen sollen, dass nicht Montage sondern "die Montage" gemeint war - das Montieren also und keine Ein-Tage-Woche.
Die menschliche Faulheit ist kein Makel. Sie durchbricht bereits in archaischen Texten und späteren Erzählungen die Sphäre des Fleißes. Das Paradies, dieser Urzustand, den der Mensch verlassen musste, wird als Hort des Müßiggangs, als anstrengungsloser Topos beschrieben. Das Schlaraffenland begegnet uns bereits in der griechischen Antike, später im Mittelalter und in der Renaissance. Gebratenes Geflügel, das schlicht in offene Münder stürzt, sind das wiederkehrende Motiv menschlicher Sehnsucht, eine historische Konstante. Die Faulheit ist heute geächtet, sie gilt als Ausdruck menschlicher Schlechtigkeit, als Gegenteil von Fortschritt. Dabei ist es ausgerechnet die Faulheit, die Arbeitsschritte effektiver gestaltet, die Anstrengungen tilgt und Fertigungsprozesse von Schweißperlen befreit. Es wäre vermessen zu behaupten, dass die Industrialisierung und die darin enthaltenen Rationalisierungen, der Taylorismus insbesondere, auf Grundlage der menschlichen Faulheit entstanden sind. Aber Arbeitende selbst erleichtern sich den Werktag ja durchaus, treiben den Impuls der Faulheit vor sich her, um etwaige Arbeitsschritte zu simplifizieren oder gar zu vermeiden.
Dass Faulheit zur Humanitas gehört, war mir immer bewusst. Später sollte ich darüber ein Essay schreiben, mich auf Lafargue stützen, diesen, meinen heimlichen Helden der Faulheit. Auch wenn er Faulheit natürlich nicht als Hängematte beschreibt, sondern mit modernen Worten gesagt: als Entschleunigung. Und zur Erklärung, ich definiere Faulheit auch nicht mit Rumhängen, sondern damit, nicht zwanghaft produktiv sein zu müssen.
Der berufstätige Mensch, so bemerkte ich, als ich noch Bescheide im Postkasten fürchtete, weiß genau wie ich, dass Faulheit etwas ist, das in ihm ist. Weil er aber wenig Zeit findet, seine Faulheit auszutoben, hat er vermutlich einen verbal lockereren Umgang mit ihr. Aber diejenigen, die theoretisch Zeit dazu hätten, die werden auf instruierte Gewissensbisse zurückgeworfen. Überdies, wenn die Medien zielgerichtet von der Faulheit eines ganzen Standes berichten und man diesem Stand zugehört.
Gewissen. Mit dem hat man zu tun, wenn man so in den Zeitungen liest, was für ein Kerl man eigentlich ist. Man liest von Faulpelzen mit Regelsatz. Dann Zwiesprache mit dem Gewissen. Bin ich auch einer? Haben die vielleicht doch recht? Das Gewissen. Selbst beim Füttern meiner Katze. Arm sein und Haustier haben. Unverantwortlich! Oder nicht? Vormittags in der Bücherei. Dreist! Die anderen arbeiten. Gewissen, eine Scheißsache ist das. Noch dazu, wenn es sich so unnütz meldet, wenn es laut wird, wo es ruhig leise sein dürfte, wenn es ertönt, weil man es stichelt.
Hat man den modernen Menschen, der durch die Schule der Industrialisierung und der Arbeitsteilung gegangen ist, schon vor langer Zeit von der in ihm ruhenden Faulheit entfremdet, ihn moralisch zu ihr abgeschottet und ihm erklärt, dass Faulheit immer schon verwerflich war, so ist der moderne Massenmensch ohne ökonomische Teilhabe, der mit seinen moralischen Richtern täglich bei der Zeitungslektüre zu tun hat, noch eklatanter in diese Zerrissenheit geworfen. Denn derjenige, der ökonomisch nicht teilnimmt, der also arbeitslos ist, der trägt die Charakterlosigkeit der Faulheit nicht mehr nur in sich, er wird jetzt zur fleischgewordenen Faulheit, wird zum Makel in corpore, zur Faulheit auf zwei Beinen, die allerdings wiederum nur hochgelegt werden.
Bevor gleich die Historiker auftauchen und sagen, dass die Faulheit auch schon vor dem industriellen Zeitalter etwas war, was nicht geliebt wurde, eine Klarstellung: Ja, das stimmt. Gleichwohl, und Lafargue weist auch darauf hin, gab es im Jahresablauf der Kirche, und die regelte den ganzen Zirkus ja mehr oder minder, eine Unmenge an Feier- und Ruhetagen. Fleiß war etwas für den Werktag, dort war die Faulheit eingeschränkt. An Ruhetagen war sie jedoch die Herrin. Und überhaupt gestalteten sich Jahresabläufe für Menschen, die noch an die Natur und an die Witterung gebunden waren, in einem anderen Takt. Im Winter schmachtete man in der Hütte, war gezwungenermaßen faul. Lafargue greift Weber voraus, wenn er beschreibt, dass erst der Protestantismus diese Flut an Feiertagen aufhob, dem Fleiß ein erdrückendes Übergewicht per annum verlieh.
Von Natur aus, von der conditio humana her faul, geriet dieser Makel für mich zur seelischen Belastung. Ich vermied Anstrengung schon immer gerne. Wenn ich etwas tue, möchte ich es effektiv und kraftsparend erledigen, wenig schwitzen, wenig Zeit dafür aufwenden. Das ist mein Faulheitsanspruch. Jedenfalls bei Dingen, die mich nicht erfreuen. Ich wusste von meiner Faulheit, seitdem ich Kind war, seitdem ich nur an Montagen arbeiten wollte. Und dann kriminalisierten sie die Faulheit einer Gesellschaftsschicht, zu der ich plötzlich gehörte. Hatten sie etwa recht? Bin ich Hartz IV-Bezieher geworden, weil ich immer schon den Impuls zur Faulheit in mir trug? Ist meine Situation eigenes Verschulden? Bin ich zu lahm, zu bequem? Aber als ich Arbeit hatte, war ich ja gar nicht faul in deren Sinne. Entkräftete das deren These? War der Rückzug mit einem Buch in der Hand, was sie faul nennen und ich Bildung, nicht Attribut des Großenganzen meiner sozialen Stellung gewesen? Wer gerne faul ist, das Scheuen von Mühen nicht leugnet, sondern offen zugibt, landet der nicht folgerichtig im Hartz-Vollzug? Oder kriminalisiert man da eine Haltung, die völlig normal ist, die in jedem schlummert? Vulgärpsychoanalytisch gefragt: Ist die Pathologisierung der Faulheit, der man Arbeitslosen aussetzt, nicht der unbewusste Trieb der Werktätigen - und der, die glauben, tätig zu sein -, ihre im Inneren verborgene Faulheit auf Dritte abzuwälzen? Ist es etwa wie beim Penisneid - nur ohne Penis?
Es gab andere Faktoren, als meine innere Faulheit. Die sind aber hier und heute nicht wichtig. Gleichwohl ich das damals wusste, ließ die Demagogie mit der Faulheit mich leiden. Und wenn dann Stimmen zu vernehmen waren, dass sich Arbeitslose, speziell natürlich Langzeitarbeitslose, zu beweisen hätten, dann war ich nicht etwa erleichtert, weil ich das als gegebene Chance ansah, sondern ich wurde bockig. Sich beweisen meinte da Dinge wie Praktika, kostenfrei Arbeitskraft anbieten, von Geschäft zu Geschäft wandern, Pappschild um den Hals, ein Bewerberprofil mit sämtlichen Kontaktdaten im Datensatz des Jobcenters hinterlassen - das übliche Repertoire eines Sozialstaates, der auf Workfare setzt. Die in mir erkannte Faulheit, die nun plötzlich eine Charakterlosigkeit meinerseits, vielleicht sogar eine kriminelle Handlung an der Gesellschaft sein sollte, trieb mich nicht zu solchen Maßnahmen, sondern vertrieb mich von jeglichen guten Willen. Glauben die Initiatoren der Faulheitsstigmata denn, sie würden damit Menschen animieren, sich zu beweisen? Ich denke, das Gegenteil ist der Fall.
Also bewarb ich mich auf traditionelle Art, Bewerbungsschreiben ohne Floskeln des Überschwangs und Einleitungen wie "Sie suchen einen hervorragenden Mann und so weiter und so weiter - Sie haben in mir den richtigen Mitarbeiter gefunden!" Ich blieb formal, trocken, freundlich und korrekt zwar, aber ohne Ambitionen auf Bewerbungsprostitution. Wer jemals eine dieser Bewerbungen gelesen hat, der musste fast automatisch denken, das sei eine Alibibewerbung und endlich schlussfolgern: Faules Schwein.
Also doch faul? Also doch in dieser Misere, weil ich faul war? Meine Bewerbungsschreiben konnten als Beleg dafür missbraucht werden. Was war zuerst da, das faule Ei oder die Henne? Wer hätte mir abgenommen, dass diese unbeseelten Bewerbungen nur Folge waren, nicht aber Beleg? Ist die augenscheinliche Faulheit, die man unbedingt und händeringend bei Menschen sucht und findet, die keiner Arbeit nachgehen können oder dürfen, nicht auch als Folge dieser faulen Kampagne zu sehen? Löst die Angst davor, als faul gekennzeichnet zu werden, nicht Phlegma aus? Eine schwerfällige Lethargie, die man mit böser Absicht und bar von Empathie mit Faulheit verwechseln könnte?
Es ist perfide, was man mit der Dogmatik des Stigmatisierens durch das Nachsagen von Faulheit anrichtet. Man macht nicht nur einen menschlichen Wesenszug zu einem Makel des Charakters oder gar zu einem Anschlag auf gesellschaftliche Werte, sondern man bugsiert betroffene Arbeitslose in ein Dilemma zwischen ihrer völlig normalen menschlichen Regung (besser: Regungslosigkeit) und einer Erwartungshaltung, die jeder Menschlichkeit spottet. Jeder Erwerbstätige kann sich seiner gelegentlichen Faulheit brüsten - ein Arbeitsloser niemals. Jeder Anflug theoretisch denkbarer Faulheit löst den sozialen Ausschluss aus, bringt dumme Sprüche mit sich. Und selbst wenn die nicht kommen, ist die Vorstellung, dass diese Sprüche kommen könnten, schon schlimm genug. Die unterstellte Faulheit, die natürlich in einem gewissen Ausmaß deckungsgleich ist mit jedem Menschen, ist ein soziales Gefängnis, ein Ausgrenzungsmechanismus und ein Stressor.
Richtigstellung zum Ende: Diese Zeilen bestätigen nicht, dass Arbeitslose faul sind. Sie beschreiben nur den Umgang mit einer Faulheit, die in jedem von uns mehr oder minder verkappt ist. Manche Faulheit, die man leicht und locker unterstellt, ist bei genauem Hinsehen nicht weniger als soziale Lähmung. Andere gibt es, die sind faul auch am Arbeitsplatz. Was sagt der soziale Status also über Fleiß oder Nicht-Fleiß aus? Arbeitslose sind nicht fauler oder fleißiger als andere - sie haben nur das Problem, dass man ihre per Humanitas eingespeicherte Faulheit viel genauer beobachtet und prüft. Bei Erwerbstätigen überwacht nur der Arbeitgeber - bei Arbeitslosen tut dies eine ganze Gesellschaft.

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