Vor allem Anderen steht Fassungslosigkeit, Entsetzen, Traurigkeit, Mitgefühl, manchmal Ratlosigkeit, Solidarität und auch Wut.
“Nous Sommes Unis!” – Wir sind einig! Aber worüber sind wir einig? Worüber können wir in dieser verrückten, verrohten Welt einig sein? Die Terroranschläge in Paris am Freitag, dem 13. November 2015, treffen uns alle. Sie treffen uns, nicht weil es Terroranschläge sind, denn derartiges geschieht überall auf der Welt täglich, und wir sehen geflissentlich darüber hinweg. Sie treffen uns, weil sie so nahe sind, und weil wir spüren, dass sie an den Grundfesten unseres persönlichen Lebens zerren.
Nur wenige Stunden ist es her, dass 8 vermutlich islamistische Terroristen an 6 verschiedenen Orten in der französischen Hauptstadt Selbstmordattentate verübten. Die offizielle Zahl der toten liegt bei 128 Personen, die der lebensgefährlich Verletzten bei 87. Wieder einmal müssen wir uns ängstliche, panische Menschen vorstellen, die durch die belebten Straßen einer großen Stadt hasten, von Kugeln verfolgt, auf der Straße liegend, verblutend, um Hilfe schreiend. Oder sie sitzen hier noch im Konzert einer amerikanischen Rockband und finden sich wenige Sekunden später als Geisel von schießwütigen jungen Männern wieder, denen Leben nichts gilt, die Eltern und Kinder gleichermaßen töten, Alte und Junge, Gesunde und Kranke, Moslems und Christen, Flüchtlinge und Einheimische, ohne jeden Unterschied. Dies müssen wir uns vorstellen, es ist nicht zu beschreiben. Bevor wir diskutieren müssen wir unsere Gefühle bemühen, müssen auf uns wirken lassen, was es in Deutschland seit 70 Jahren nicht mehr gibt: das Gefühl, Opfer eines Krieges zu sein. Diese Metapher vom Krieg, die von den französischen Offiziellen, von der EU und den USA jetzt wieder in vorhersehbarer Weise ausgeschlachtet wird, diese Metapher lehne ich ab, doch die Menschen, die an einem gewöhnlichen Freitag Abend ein Fußballspiel sehen, das ihre Mannschaft zu gewinnen sich anschickt, und die dann in einen Albtraum aus Blut, Schmerz, Verlust, Panik und Terror gerissen werden, diese Menschen fühlen sich wie in einem Krieg: Hilflos dem Feind ausgeliefert. Wir müssen das wissen, bevor wir tief durchatmen und einen Schritt weiter denken.
Wie gehen wir mit einer solch schrecklichen, barbarischen Bluttat um? Natürlich ist die erste Reaktion Angst. Paris ist nahe, es könnte jederzeit auch in Deutschland passieren, wir könnten jederzeit betroffen sein, wer sagt uns denn, dass wir sicher sind vor diesen skrupellosen Killern? Schließlich lassen wir unendlich viele Moslems ins Land, einige von ihnen könnten doch auch Terroristen sein?
Ja, liebe besorgte Bürger, es stimmt. Es ist nicht auszuschließen, dass ein Muslim, der in Deutschland lebt, ein Terrorist ist oder wird. Damit müssen Sie leben, damit muss ich leben. Es ist aber ebenso wenig auszuschließen, dass ein Deutscher, dessen Urgroßvater auch schon Deutscher war, ein Terrorist ist oder wird. Der Terrorismus hat so viele ursachen, dass es eine vollkommene Sicherheit vor ihm nicht gibt. Das Bundeskriminalamt hat mitgeteilt, dass die Kriminalitätsrate bei den Flüchtlingen nicht höher liegt als bei der deutschen Bevölkerung. Und bei den Flüchtlingen aus Ländern wie dem Irak, Syrien oder Afghanistan liegt sie sogar signifikant niedriger. Können Sie, liebe besorgte Bürger, sich vorstellen, warum das so ist? Es ist so, weil die Menschen aus diesen Ländern genau vor dem Terror fliehen, der jetzt in Paris sein brutales Gesicht gezeigt hat. Die Flüchtlinge sind Opfer genau jenes Terrors, der mit unseren Waffenexporten ausgestattet wird und jetzt mit barbarischer Härte zurückschlägt. Eine Angstreaktion auf diesen Terror ist kreatürlich und daher verständlich, aber sie kann und darf nur die erste Reaktion sein. Politiker, die diese Angstreaktion ausnutzen, um ihr machtpolitisches Spiel zu verfolgen und ihre nationalistischen und rassistischen Ideen durchzusetzen, diese Politiker sind Kriminelle und müssen wie Kriminelle behandelt werden. Die Flüchtlinge, die aus den Ländern kommen, in denen der Terror schon viele Jahre so wütet, wie er sich jetzt an einem Abend in Paris gezeigt hat, sind nicht unsere Feinde. Sie haben dieselbe Angst wie wir, sie fliehen vor religiösem Fanatismus, und sie sind fast alle bereit, am Wohlergehen dieses Landes mitzubauen, die Ausfälle auszugleichen, die es wegen des Geburtenrückgangs in unseren Sozialkassen gibt. Und bei ihnen zuhause ist dieser Terror alltäglich. Ich glaube, ich würde ebenfalls fliehen wollen.
Was also tun wir, wenn wir es schaffen, die Angst abzubauen? Zumindest die Angst vor den Flüchtlingen? Bauen wir dann den Sicherheitsstaat aus? Schränken wir die Pressefreiheit ein? Regulieren wir das Internet zugunsten großer Konzerne? Nutzen wir die Vorratsdatenspeicherung und glauben, wir wären vor weiteren Terrorangriffen sicher? Nein! Das wäre fatal. In Frankreich gilt die Vorratsdatenspeicherung längst, und binnen eines Jahres hat es dort zwei grausame Terroranschläge gegeben. Wer Behauptet, die Einschränkung der Freiheitsrechte hilft uns gegen den Terror, der ist ebenso unehrlich wie die rechten Politiker, die sich mit menschenverachtenden Parolen und erfundenen Horrorszenarien, die sich anhören wie Goebbels zu seinen besten Zeiten, die Zustimmung der ängstlichen Menschen ergaunern.
Es gibt nur einen Weg, der uns hilft, und ich weiß, dass er gegen die menschlichen Panikinstinkte kaum eine Chance hat. Wir müssen mehr Demokratie wagen, nicht weniger. Wir müssen offener sein, nicht ängstlicher. Wir müssen geschlossener und solidarischer auftreten, selbstbewusster und freier, nicht verschüchtert, verängstigt und um uns beißend. Wir müssen den Ölzweig ergreifen, nicht das Gewehr. Ich weiß, wie schwer das ist, aber es ist unsere einzige Chance.
Wenn Demokratie, Meinungsfreiheit und Weltoffenheit unsere Werte sein sollen, dann müssen wir sie leben, nicht nur von ihnen reden. Nehmen wir flüchtlinge auf, bieten wir den Verfolgten eine Chance, schicken wir nur die zurück, die wirklich nichts zu befürchten haben. Beenden wir unseren Waffenexport, machen wir uns nicht länger an Kriegen schuldig, es reicht, wenn wir die Waffen herstellen, die wir nun einmal zur
Kriminalitätsbekämpfung brauchen. Schaffen wir die Geheimdienste ab, die Staaten und Regionen destabilisieren. Nutzen wir unsere diplomatischen Fähigkeiten, auch in anderen Ländern eine Verständigung herbeizuführen. Schüren wir die Konflikte im nahen und mittleren Osten nicht noch durch die Geschäfte, die wir mit allen Seiten machen, um unsere Mordwerkzeuge zu verkaufen und Geld in die Taschen der großen Konzerne zu spülen, damit sie unsere Arbeitsplätze erhalten mögen. Reden wir nicht nur vom Frieden, führen wir ihn herbei, oder helfen wir zumindest dabei.
Dazu gehört allerdings auch, dass wir uns klar gegen jene wenden, die unsere Ideale nicht teilen, die ihre Bevölkerung unterdrücken oder nationalistische und rassistische Ziele verfolgen. Frieden zu wünschen heißt zum Beispiel nicht, zu den Menschenrechtsverletzungen in Russland oder der Türkei, in Ungarn oder dem Kosovo zu schweigen. Wir brauchen ein Selbstbewusstsein, das nicht auf militärischer Stärke basiert, sondern auf den Werten, die wir gemeinsam wollen und vertreten sollten. Darüber sollten wir uns einig sein, das sollten wir anstreben. Wir brauchen ein Ziel, für das es sich zu kämpfen und zu streiten lohnt, eine Vision, wie eine bessere Welt aussehen könnte. Ohne eine solche Vision, und ohne eine friedlichere, sozialere Politik, sind wir brutalen Gewalttätern gegenüber wieder und wieder machtlos, so hochgerüstet unsere Polizei auch sein mag, so wenig Rechte uns auch verbleiben mögen. Am Anfang jeder Entwicklung steht der Wille zur Veränderung, oder um es mit den Worten der Bibel zu sagen: “Im Anfang war das Wort.” Wir sollten uns einig darüber sein, was wir wollen, nicht nur darüber, was wir nicht wollen. Unddiese Veränderung kann nur beginnen, wenn wir eine Grundwahrheit akzeptieren, die so grundlegend wie banal ist: Eine vollkommene Sicherheit kann es nicht geben.