Nothing's changed in the land of hope and change? Teil 1/2

Von Stefan Sasse
Nachdem die Zahlen zur Präsidentschaftswahl inzwischen belastbarer geworden sind, lassen sich auch genaue Aussagen zum Thema treffen (North Carolina, das frühere Voraussagen am Mittwochmorgen für Obama erklärten ist inzwischen an Romney gegangen). Betrachten wir zuerst die nackten Zahlen: Obama hat 303 Stimmen im Electoral College (das den Präsidenten wählt) gewonnen; für eine Mehrheit braucht es 270. Romney hat 206. Sieht man sich eine Karte mit den gewonnen Staaten an, so scheint das Verhältnis von rot (Republicans) und blau (Democrats) in etwa ausgeglichen. Die gesamte Westküste ist demokratisch, ebenso der Nordosten und Osten. Der mittlere Westen und die Südstaaten dagegen gingen an die Republikaner. Ausnahmen sind lediglich New Mexico und Colorado, die ebenfalls demokratisch abstimmten. Obama konnte alle "Swing States" mit Ausnahme North Carolinas gewinnen (es sei denn, die noch immer nicht abgeschlossene Auszählung in Florida erklärt doch überraschend Romney zum Sieger); sein Vorsprung lag zwischen zwei und sechs Prozentpunkten und damit in den meisten Fällen über dem "margin of error" (+/- 3%). Obama gewann auch die Mehrheit der abgegebenen Stimmen (aktuell 50.4% gegenüber Romneys 48%). Insgesamt gewann Obama zwei Staaten weniger als 2008 und verlor rund 2% im popular vote.
Setzen wir diese Zahlen einmal in Kontext zu den letzten Wahlen. 2000 entschied die richterliche Entscheidung zur Wahl in Florida unheimlich knapp für Bush, der eine knappe Mehrheit im Electoral College, aber keine im popular vote hatte (ein seltener Sonderfall). 2004 scheiterte Kerry vor allem an Ohio, verlor aber relativ klar gegen Bush, der mit 2012 sehr ähnlichen Prozentzahlen das popular vote, aber mit 286 zu 251 deutlich weniger Elektorenstimmen gewann. 2008 gewann Obama 365 Elektorenstimmen gegenüber McCains 173; im popular vote stand es 53% zu 46%. Obamas Sieg fällt also etwas kleiner aus als 2008, ist aber nicht gerade knapp. Bush wurde wesentlich knapper gewählt und sicherte sich seine Wiederwahl ebenfalls knapper. Niemand hatte damit gerechnet, 2008 zu wiederholen, weswegen das Ergebnis eher eine freudige Überraschung für das Obama-Lager sein dürfte. Mit einem so klaren Votum gegen Romney besonders in Virginia und (eingeschränkt) Florida hatten nur wenige gerechnet.
Besonders in der europäischen Berichterstattung wurden die zeitgleich stattfindenden Wahlen zum House of Representatives und einem Drittel des Senats gerne übersehen. Die Republikaner konnten ihre Mehrheit im House behalten, während die Demokraten weiterhin den Senat kontrollieren. Trotzdem sollte dieses Ergebnis nicht voreilig als Beibehaltung des Status quo interpretiert werden, denn viele verlorene republikanische Sitze gehörten Tea-Party-Größen, die keinerlei neuen Sitze gewannen (diese gingen an moderatere Republikaner), während die Demokraten einige progressive Ikonen in den Kongress bringen konnten (etwa die erste offen lesbische Abgeordnete, Tammy Baldwin). Insgesamt wird der Kongress also ein klein wenig liberaler. Ebenfalls von der Berichterstattung völlig übersehen wurde, dass in einigen Staaten die Homo-Ehe und Marihuana legalisiert wurden, was ebenfalls eine Bewegung in die progressive Richtung zeigt, während Puerto Rico mit 54% in einer unverbindlichen Volksabstimmung für eine Bewerbung im Kongress als 51. US-Bundesstaat gestimmt hat. Es stehen also in Obamas Legislaturperiode einige potenzielle Veränderungen auf dem Tablett, für die bereits diese Wahlen eine Art Vorentscheidung boten. 
Soviel zum reinen Faktenhintergrund dessen, was am Dienstag eigentlich genau alles passiert ist. Im Folgendene sollen einige Analysefelder untersucht werden, die einer Erklärung bedürfen. Dabei werden einige populäre Mythen zerschlagen und Probleme und Chancen der zweiten Legislatur Obamas angesprochen. 
Das erste große Feld betrifft die Umfragen. Bis zur ersten TV-Debatte prophezeite die Mehrheit der Umfragen eine solide, wenngleich tendenziell minimal abnehmende Mehrheit für Obama. Mit der ersten Debatte änderte sich das rapide; fast alle großen Institute sahen Obama und Romney fortan Kopf and Kopf, einige Institute prophezeiten sogar einen knappen Sieg Romneys (die Mehrheit präferierte allerdings "too close to call"). In der Parallelwelt von Fox News und zu einem geringeren Grad MSNBC gab es interessanterweise Prognosen, die einen landslide victory der jeweils eigenen Seite vorhersagten. Diese Prognosen kamen praktisch ausschließlich aus dem jeweiligen Lager und besaßen klare politische Zielrichtungen, sie waren also parteiisch ("biased") und völlig unwissenschaftlich. Doch auch die meisten anderen Prognosen lagen schwer daneben; als korrekt erwiesen sich praktisch nur Nate Silvers Prognosen, die einen deutlich mathematischeren Ansatz verfolgten. Dies liegt an der starken Betonung von emotionalen Aspekten in den anderen Prognosen und der notorischen Neigung der Medien, ein mächtiges Narrativ zu spinnen. Ein Kopf-an-Kopf-Rennen ist spannender und quotenträchtiger, wird gewünscht und daher im Zweifel herbeigeschrieben. Dabei dürfte Obamas Führung nie wirklich in Zweifel gestanden haben. 
Der "surge" Romneys, das "momentum", das er angeblich durch die erste Debatte hatte, war ein reines Luftschloss. Es war der größte Erfolg von Romneys Spin-Doktoren. Nach der ersten Debatte verbreiteten sie die Meldung von diesem Momentum, das ihn nun ins Amt tragen würde, und die Medien griffen es gierig auf. Interessanterweise scheint das in der Bevölkerung kaum jemanden interessiert zu haben. Spätestens durch Hurrikan Sandy gelangten die Umfragen wieder auf praktisch die gleichen Werte, die sie vor den Debatten gehabt hatten. 
Damit können wir auch gleich mit dem großen Mythos aufräumen, den die Republikaner sich gerade zurechtspinnen: dass Romney ohne den Hurrikan gewonnen hätte. Zwar ist es richtig, dass Chris Christies Wahlempfehlung für Obama sicherlich nicht hilfreich war; die Gegend, in der Christie seinen größten Einfluss hat ist aber ohnehin stark demokratisch (und Staaten wie Ohio und Pennsylvania waren nie ernsthaft "in play"). Wir sollten uns auch vor Vergleichen wie der Bundestagswahl 2002 hüten, denn damals spielte der Irakkrieg eine mindestens genauso wichtige Rolle wie die Oderflut, und letztere erreichte keine Dimensionen, wie dies der Hurrikan tat. Romney hätte auch ohne den Sturm verloren; vielleicht mit 0,2% oder 0,3% des popular vote weniger, aber in den Verhältnissen der vom Sturm betroffenen Staaten hätte sich keine Änderung ergeben. New York, New Jersey und Maryland waren schon vorher klar demokratisch. 
Der Hurrikan hatte eine andere, interessante Auswirkung: er mobilisierte noch einmal all jene, denen climate change ein großes Anliegen ist. Im Wahlkampf spielte es bis zu diesen letzten Tagen keine Rolle, in den Debatten kam der Klimawandel nicht vor. Doch Sandy änderte das. Nutzt Obama das aus, könnte er deutlich umfangreichere "grüne" Politik betreiben als dies bisher der Fall war. Ähnlich Fukushima 2011 in Deutschland dürfte eine ganze Reihe von Menschen ihre Meinung zu diesem Thema geändert haben, ohne dass dies direkten Einfluss auf ihre Wahlentscheidung hatte. 
Der entscheidendste Faktor, so war es in den Monaten vor der Wahl beständig zu hören, würde die Wirtschaft sein. Obama musste mit konstant über 8% liegenden Arbeitslosenzahlen kämpfen, und ein populäres Narrativ erklärte, dass kein Präsident seit 1936 mit einer über 8% liegenden Arbeitslosenrate wiedergewählt worden sei. Der historische Vergleich ist ohnehin irrelevant, aber die wirtschaftliche Situation ist für die überwältigende Mehrheit der Menschen nach wie vor der entscheidende Faktor. Dabei ist aber nicht wichtig, wie sich Prozentzahlen verschieben (wen interessiert, ob die Arbeitslosenrate 8% oder 7.9% ist?), sondern wie der Trend eingeschätzt wird. Und hier wiesen alle Indikatoren nach oben. Die Lage war schlecht, aber das überwiegende Gefühl war, dass es besser wird. Dieses Gefühl konnten weder Bush 1992 noch Carter 1980 vermitteln. Obama konnte es. Things are looking up, and they will get better. Dem Obama-Wahlkampfteam gelang hier ein regelrechter K.O.-Schlag gegen Romneys Strategie, sich als den besseren Wirtschaftspolitiker zu präsentieren. 
Das gelang vor allem, weil das Obama-Team seinen größten Triumph darin feiern konnte, Romney als herzlosen Plutokraten zu zeichnen. In einer Reihe von Negativ-Werbespots und sehr persönlichen Angriffen wurde dieses Bild in die Wähler gehämmert und dabei auch großzügig mit Fakten und Implikationen umgegangen. Das Romney-Team konnte dagegen nichts ausrichten. Der größte Vorteil Romneys, seine angebliche Wirtschaftskompetenz, wurde dadurch vollständig neutralisiert. Gleichzeitig gelang es dem Romney-Team überhaupt nicht, etwas Vergleichbares gegen Obama auf die Beine zu stellen. Der Grund hierfür ist einfach: es führte Wahlkampf gegen den Gegner den man wollte, nicht den Gegner, den man hatte. Obama wurde als kenianischer Kommunisten-Muslim gezeichnet - ein Bild, das zwar der eigenen Basis gefiel, aber nicht mehrheitsfähig war. Jeder, der Augen hat, konnte sehen dass Obama zwar unzweifelhaft ein liberal ist, aber mit Sicherheit kein Dämon in Menschengestalt. Das war so übertrieben, dass es nicht glaubhaft ist. Romney als herzloser Plutokrat dagegen war glaubhaft, besonders nach Veröffentlichung seiner 47%-Rede. Dieser Teil war reines Können in Sachen Wahlkampf. 
Teil 2 folgt.


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