Nothing ever happens, oder waren etwa Kommunalwahlen?

Den ganzen Tag habe ich ein Bild im Kopf: Ich verlasse meine Wohnung und begegne meiner nachbarin auf der Treppe, wir rufen uns einen Gruß zu. Der Postbote kommt und wünscht mir einen guten Tag. Draußen vor der Tür unterhalten sich zwei Frauen über die Qualität des Supermarktes in der Nähe und lassen sich durch mich nicht stören. Ein Jogger läuft an mir vorbei. An der Bushaltestelle steht ein Mann und raucht, hustet und grüßt. Sieben Menschen, die mir innerhalb von drei bis vier Minuten auf meinem Weg in die Stadt begegnen. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass einer dieser Menschen am Sonntag eine Partei gewählt hat, die Flüchtlinge an der Grenze erschießen, den Mindestlohn abschaffen, die Gleichberechtigung der Frauen beseitigen, die freie Presse verbieten und Deutschland zu einem nationalistischen Staat machen will. Wenn ich dann in den Bus steige, in dem sich vielleicht 50 Menschen unterhalten, in dem Kinder schreien, Hunde winseln, Handys klingeln, dann muss ich bei sieben dieser Menschen davon ausgehen, dass sie Menschen mit Behinderung als Abschaum und Belastung empfinden, Menschen mit dunkler Haut als minderwertig betrachten und Arbeitslose als asozial bezeichnen. Das war bestimmt alles auch schon in den letzten Wochen, Monaten und teilweise Jahren so, aber seit der Kommunalwahl in Hessen vom Sonntag trauen sie sich, diese Gefühle offen zu äußern. Mögen Andere die Gründe analysieren, mit dem Finger aufeinander Zeigen und versuchen, Volkes Wille zu ergründen und um ihrer Macht willen speichelleckerisch zu erfüllen: Ich habe erst einmal einfach nur Angst.

Auf Twitter lese ich häufig Vergleiche mit der weimarer Republik. Sie sind so einleuchtend und augenfällig. Auch damals arbeitete sich die NSDAP auf einer Woge aus Angst, Unzufriedenheit, politischem Versagen und falsch verstandener nationaler Begeisterung an die Macht. Passt auf, heißt es, dass dies jetzt nicht erneut geschieht. Und ich habe beifällig genickt, Doch es war falsch und irreführend. Denn damals hatte Deutschland zwar eine Demokratie und eine Republik, aber es war von fast Anfang an eine Demokratie mit antidemokratischer Mehrheit, eine Republik unter ständigem Beschuss ihrer Feinde. Wir hingegen hatten alles, was wir wollten: Wohlstand, Freiheit, Zukunft, Bildung, Arbeit, Menschenrechte und ein Europa, an dem man bauen konnte. Und wir hatten die Geschichte des falschen Weges vor Augen. Und wir, die wir die denkbar besten Voraussetzungen hatten, wir laufen wieder den Demagogen hinterher? Wir, die wir im absoluten Wohlstand leben, auch wenn es relativ gesehen viele Ungerechtigkeiten gibt, wir vertrauen unser Glück den Scharfmachern und Menschenverachtern an? Wir hätten alle Möglichkeiten gehabt, für unsere Zukunft innerhalb der Demokratie, der Toleranz und der Freiheit zu kämpfen, wir hätten die Radikalität nicht gebraucht! Wir waren die Glücklichen, wir waren nicht die gedemütigten Armen der zwanziger und frühen dreißiger Jahre. Unsere Wirtschaftskrisen spielen sich auf einem Niveau ab, von dem unsere Großeltern nur träumen konnten. Wir verspielen das Paradies! Wir geben aus der Hand, was wir schon sicher hatten!

Insofern ist der Weg, den wir jetzt eingeschlagen haben, und den wir in der kommenden Woche mit drei Landtagswahlen konsequent verfolgen werden, schrecklicher noch als der, den unsere Großeltern vor über 80 Jahren gehen mussten. Denn wir hätten es besser machen können. Unsere politische Klasse vor 30 oder 40 Jahren hätte anders auf die AFD und ihren Hass reagiert. Sie hätte klare Alternativen angeboten, wäre auf unerfüllbare Forderungen der Radikalen nicht eingegangen, sondern hätte im wesentlichen deutlich die eigene Ansicht als Wahlalternative vertreten. Standfestigkeit imponiert, und Politiker vom Schlage eines Willy Brandt, eines Rainer Barzel, sogar eines Franz Josef Strauss hätten die Menschen mit klaren Alternativen überzeugt. Natürlich ist der Zustrom der Flüchtlinge in Deutschland eine Aufgabe, aber natürlich können wir sie bewältigen, wenn wir nur wollen, Deutschland hat still und leise viele Einwanderungswellen gemeistert, die uns bereichert haben. Doch heute werden Politiker nicht mehr wegen ihrer Überzeugung gewählt, sondern wegen ihres Images, dass sie sich mit Hilfe einer ganzen Industrie von Beratern aufbauen. Genauer gesagt: Sie werden nicht mehr gewählt, weil Ehrlichkeit keine Tugend mehr ist, weil drohender Machtverlust nicht mehr als Teil demokratischer Spielregeln erkant und hingenommen wird. Politiker sind Worthülsenschleuderer geworden, Schauspieler auf der Bühne der Macht. Ihre Indifferenz, ihre Gleichgültigkeit, ihr schlechtes Vorbild, das alles schlägt nun mit Gewalt auf sie zurück, und auf uns alle. Gäbe es echte, demokratische, sachlich begründete, ehrlich vertretene Alternativen, wir müssten keine Angst vor der Zukunft haben. So aber gibt es nur programmierte Ratlosigkeit, unerträgliche Phrasendrescherei und Angst.

Von wegen: Wehrhafte Demokratie!

Und nächste Woche werde ich dasselbe noch einmal sagen. Der triumphierende Spott der wenigen Rechten, die mich hören oder lesen, wird mich treffen, aber sonst wird nichts geschehen.

Nothing ever happens,
nothing happens at all!
They’ll burn down the Synagoges at six o’clock and we all go along like before,
and we all will be lonely tonight and lonely tomorrow!
(Del Amitri: “nothing ever happens”)

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