"Nora" von Henrik Ibsen im Schauspielhaus Hannover, ab April 2012
"Nora", effektvoll und doch psychologisch fein inszeniert von Lars-Ole Walburg selbst: wieder einmal ein Ibsen-Stück in Hannover ("Ein Volksfeind" wurde nach langer Laufzeit gerade im selben Monat zum letzten Mal gegeben; "Peer Gynt" ist geplant). Ich war beeindruckt, vor allem von der schauspielerischen Leistung.
Das Innen und das Außen* spielen eine große Rolle in dieser Inszenierung, unterstützt vom Bühnenbild. Innen das bürgerliche Leben, das Aufrichtigkeit fordert, sie aber nie leistet; außen die ungemütliche wirkliche Welt, dauernd schneit es. Wahrheit und Lüge sind aber nicht so einfach verteilt. Jederzeit ist Durchschlupf möglich: Mal durchs Fenster, hinter dem es schneit, bis aufs Sofa; mal durch die blumig-rankenhafte Dekowand, die eine Tapete sein könnte, aber als abschließende Wand nicht taugt, von hinten hindurch in den Vordergrund."Es gibt keine singuläre Lüge. Du kannst das Lügen nicht auf einen bestimmten Bereich beschränken. Wenn ich im Beruf lüge, lüge ich auch privat" (so formuliert es Ibsen im Stück).
Scheinbar sind sie glücklich die Helmers, vielleicht eine Zeitlang sogar wirklich. Thorvald ist gerade zum Bankdirektor ernannt, keine finanziellen Sorgen mehr; seine junge, hübsche Frau Nora (seit 8 Jahren verheiratet, zwei Kinder) trägt er offenbar auf Händen. Doch sie hat ein Geheimnis - als es ihnen noch schlechter ging, hatte sie von Anwalt Krogstad heimlich einen Kredit aufgenommen, um ihrem kränklichen Mann einen Kuraufenthalt zu ermöglichen, und dafür die Unterschrift ihres im Sterben liegenden Vaters gefälscht. Ausgerechnet von dem Krogstad, den ihr Mann gerade entlassen will - wegen einer Urkundenfälschung. Er setzt Nora mit seinem Wissen von ihrer Verfehlung unter Druck, sich für ihn bei ihrem Mann einzusetzen. Der Durchbruch der Fassade beginnt aber eigentlich schon zu Anfang, als plötzlich Noras Freundin Frau Linde auftaucht: ewig strickend, verklemmt schon in ihrer Körperhaltung (oder gebeutelt vom Leben?), man fragt sich, ob sie überhaupt aufrecht gehen kann. Rasch weiß sie ein bisschen zu viel. Und dann ist da noch der "Hausfreund", Doktor Rank, mit seiner unklaren Rolle, angeblich todkrank. Es kommt zum Eklat, als Krogstad an seinen Chef schreibt und alles offenbart. Das ganze Fassadengerüst ist zusammengefallen: Thorvald reagiert dermaßen heftig, dass Nora nur eines tun kann - und sie tut es: Sie geht. Sie verlässt das Puppenheim. Damals (Uraufführung 1879) eine ungeheure Tat - so ungeheuerlich, dass Ibsen für das deutsche Publikum den Schluss umschreiben musste.
Lange spielen beide ihre Rolle (wie die beiden Bildausschnitte hervorheben): Sie, das "Häschen", das man mit Koseworten bedecken muss; er, der Übereifrige, der die Verantwortung trägt und selbst am Weihnachtsabend noch einen Aktenberg mit nach Hause bringt. Den hält er kurz danach waagerecht, und er bricht nicht auseinander - die (Requisiten-)Fassade hält hier noch! Derartige ironische Brechungen gibt es immer wieder, manchmal bis ins Grotesk-Slapstickhafte gesteigerte; das geht gelegentlich für meinen Geschmack zu weit (die karikierende Engelsfigur, die über die Bühne geistert). Ein Zuschauer, den ich hinterher nach seinem Eindruck gefragt habe, meinte "na ja, im letzten Akt kommt ja die Tiefe des Stücks wenigstens ein bisschen mehr heraus".
Freundin Linde - großartig gespielt von Susana Fernandes Genebra - hat ihre eigene Art, Menschen unter Druck zu setzen, mit mehr Raffinesse, gar nicht püppchenhaft, zielgerichtet zum eigenen Vorteil: Sie erreicht von Nora, dass sie ihren Mann dazu bringt, die Freundin in der bank als Sekretärin einzustellen. Sie verlangt von den Helmers die Wahrhaftigkeit, die das Konstrukt zum Einsturz bringt.
Eine stets lebendige, unterhaltsame, dennoch zum Nachdenken anregende Aufführung, die ich sehr empfehlen möchte.
Zum Abschluss ein Blick auf die Schauspieler beim Schlussbeifall, weil sie noch so weit in ihrer Rolle sind, dass sie die einzelnen Rollencharaktere zeigen.
Regie Lars-Ole Walburg + Bühne Moritz Müller + Kostüme Nina Gundlach + Musik Burkhard Niggemeier + Dramaturgie Judith Gerstenberg
Helmer, Advokat Henning Hartmann + Nora, seine Frau Mirka Pigulla + Doktor Rank Wolf List + Frau Linde Susana Fernandes Genebra + Krogstadt, Anwalt Mathias Max Herrmann + Musiker Burkhard Niggemeier
*Zum Innen und Außen äußert sich Lars-Ole Walburg in dem Interview, das in dem informativen Programmheft abgedruckt ist.
(C) Text und Fotos: Dr. Helge Mücke, Hannover