Von Agyrophobie (Angst, die Straße zu überqueren), über Deipnophobie (Angst vor Unterhaltungen während einer Mahlzeit) und Sesquipedalophobie (Angst vor langen Wörtern) bis hin zu Venustraphobie (Angst vor schönen Frauen). Immer mehr Spaßvögel reden uns immer neue Ängste ein, die in der Regel auf dramatische gesellschaftliche Verwerfungen hinweisen sollen. Seit heute (wieder einmal) im Fokus: Nomophobie.
Nomo-was? Nomophobie ist ein Kunstwort, das sich aus “No Mobile Phone Phobie” zusammensetzt und bezeichnet laut Wikipedia “die Angst, mobil unerreichbar für soziale und geschäftliche Kontakte zu sein”. Das britische Marktforschungsunternehmen “OnePoll” hat nun anscheinend über das hauseigene Panel 1.000 Nutzer gefragt, ob sie Angst davor hätten, nicht mobil erreichbar zu sein – infolge von Netzproblemen, Handyverlust oder akuter Akku-Leere. Das Ergebnis dieser quantitativen Analyse: 70% der Frauen und 61% der Männer antworten mit “Ja”. Die Zahlen klingen beeindruckend und nahezu sämtliche internationalen Leitmedien plappern die Meldung munter nach. Der Beleg, dass ein ganzes Land kollektiv an einer Phobie leidet ist offensichtlich erbracht. Aber ist er das wirklich?
Zunächst einmal gibts es da ein semantisches Problem: Eine Phobie, oder auch eine phobische Störung, ist definiert als eine “krankhafte, unbegründete und anhaltende Angst” vor einem bestimmten Stimulus. Befragt man nun eine beliebige Stichprobe, ob sie Angst vor der Unerreichbarkeit auf dem Handy hat, dürfte in der Tat ein Großteil zustimmen. Legt man aber die Definition einer Phobie zugrunde und fragt, ob die Probanden eine krankhafte, unbegründete und anhaltende Angst vor der temporären Unerreichbarkeit hätten, darf guten Gewissens angenommen werden, dass die Zahlen weitaus geringer ausfallen würden. Die Befragung misst also durch die ungenaue Formulierung nicht, was sie messen soll – ein klassisches Validitätsproblem. Statt einer Phobie ist eigentlich eine sog. “low-level anxienty” gemeint. Daneben kann – wie leider so häufig – befürchtet werden, dass die Marktforscher von OnePoll versucht haben, das Konstrukt der Nomophobie mit einer Frage zu messen: Haben Sie Angst, infolge technischer Probleme oder des Verlusts Ihres Handys nicht mehr erreichbar zu sein? Die Original-Formulierung findet sich leider nicht auf der Homepage des MaFo-Instituts, alle Zitate in den großen Medien legen diese Vermutung aber nahe. read on
Das bedeutet, wir haben es hier mit mehreren Stimuli zu tun, die in einer Frage erhoben werden sollen. Dabei ist offentlich, dass die verschiedenen Ängste und deren Konsequenzen ganz unterschiedliche Gewichte haben: Bin ich nicht erreichbar, weil mein Akku leer ist, lade ich ihn bei nächster Gelegenheit auf – Konsequenzen: kurze Unerreichbarkeit, keine Kosten. Bin ich infolge von Netzprobleme nicht erreichbar, habe ich mich evtl. für den falschen Netzbetreiber entschieden – Konsequenzen: Ein womöglich teurer Vertrag mit jahrelanger Restlaufzeit an der Backe. Bin ich nicht erreichbar, weil ich schlichtweg mein Smartphone verloren habe, kommen zu den vorgenannten Problemen noch der Gerätewert von mehreren hundert Euro und evtl. sogar ein totaler Datenverlust hinzu – sicherlich der größte Angstauslöser.
Haben die Probanden bei der Befragung keine Möglichkeit, zwischen diesen Abstufungen einer sog. Phobie zu differenzieren, beziehen sie sich in der Regel auf den stärksten denkbaren Stimulus, das kann man psychologisch z.B. mit dem Halo-Effekt erklären (auch wenn es sicher noch bessere Erklärungsmodelle gibt). Die Befragten denken also möglicherweise an Handy- und Datenverlust, obwohl nur kurzfristige Netzprobleme gemeint waren. Damit ist keine Reliabilität mehr gegeben, das heißt die formale Genauigkeit und Verlässlichkeit der Messung bleibt auf der Strecke. Das wäre der zweite Verstoß gegen die drei Hauptgütekriterien empirischer Analysen. Bleibt als letztes Kriterium noch die Objektivität. Auch wenn das OnePoll-Marktforschungsinstitut natürlich kommerzielle Interessen vertritt, soll an dieser Stelle nicht deren Objektivität in Frage gestellt werden, auch auch der Auftraggeber der Studie, das Unternehmen SecurEnvoy als Anbieter von passwortloser Authentifizierungssoftware zwischen Smartphones, naturgemäß nicht nur ein altruistisches Interesse an den Ergebnissen haben dürfte.
Man sollte deswegen nicht den alten Churchill zitieren (“Traue keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast!”) und das Vertrauen in die Marktforschung grundsätzlich in Frage stellen, als Kernaussage bleibt aber stehen: Ein Blick hinter die Kulissen (=in den Fragebogen) lohnt sich bei jeder empirischen Studie mit spektakulären Ergebnissen. Und: MaFo-Institute sollten die Formulierungen der Fragen veröffentlichen, um eine kritische Auseinandersetzung mit den Ergebnissen zu ermöglichen und Zweifel an der Aussagekraft im Keim zu ersticken.
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Bild: D Sharon Pruitt, Laihiu/Wikimedia Commons
Siehe auch: produktflops – wer wirklich die schuld trägt