Wie sieht sie aus? Spürt man sie? Riecht man sie? Denkt man sie? Sie ist in jedem von uns. Und sie ist überall und nirgendwo und wuselt heimlich zwischen all den Zufällen und manchmal streift sie uns, ohne dass wir es ahnen. Und manchmal haut sie weinend mit ihren Fäusten gegen die Brust, schreit in unser Herz, aber wir fühlen und hören sie nicht, denn wir denken nur an sie, wenn wir sie brauchen.
Sie trägt spitze hellbraune Halbschuhe und eine enge blaue Jeans – schöne Beine, sie sind überkreuzt. Große müde Augen, dunkelblondes Haar. Sie anzuschauen ist wie dem Feuer zuzuschauen. Ihr Mund ist eine Rose und die Wangen ein klandestines Laken aus Samt. Mir gefällt, wie sie mit dem Kopf versucht ihr wellendes Haar nach hinten zu werfen. Aber die Strähnen fallen doch ins Gesicht. Was für ein Gesicht! Mein Rucksack kippt um. Ich greife sofort nach ihm. Sie schaut zu mir rüber, aber nicht in meine Augen, sondern auf die Hand, sie versucht zu lesen. Dann dreht sie sich weg. Ich grinse. Und plötzlich wedelt sie mit ihrem Ticket, mich anschmunzelnd. Ich erhebe mich.
›Ist das der Bus nach Buenos Aires?‹
Sie zeigt auf ihr Ticket und dann auf den Bus vor uns.
›Vielleicht, keine Ahnung, verstehe das System hier auch nicht – nie.‹
Sie zeigt auf die Abfahrtszeit: Zweiundzwanzig Uhr zwei. Es ist halb elf.
›Wie?‹ frage ich und schaue auf ihre Lippen, zum Küssen schön. Zartes rosa, spröde. Sie bewegen …
›Du, von wo du herkommst!‹
›Ah! Ich? Äh … aus Deutschland.‹
Sie schweigt, blauen Nebel in das Schwarz der Nacht pustend.
›Und Du? Buenos Aires?‹
Sie nickt.
›Was machst Du hier?
›Reisen. Und schreiben.‹
›Was denn?‹
›Ein Reisetagebuch.‹
Sie entschuldigt sich, geht zu einem einfahrenden Bus. Aber auch der ist es nicht.
›Ich versteh nicht warum sie nicht die Bus-Nummern auf die Tickets schreiben. Geh doch zur Information!‹
›Ach … Tagebuch? Interessant. Worüber genau?‹
›Puh … hm … über die Menschen, über mich, das was äh … also mehr mehr … self-reflexive, wie sagt man bloß … ich … fuck! Sprichst Du Englisch?‹
Sie macht mit Daumen und Zeigefinger die Geste für ›wenig‹ und antwortet:
›Nein. Wenig. Nur Fachenglisch.‹
Ich ärgere mich. Über mich.
›Schade … also über meine Erfahrungen hier.‹
›Und nur in Argentinien?‹
›Nein, ich bin seit acht Monaten unterwegs. Hab in Kolumbien angefangen und dann durch die Anden über Paraguay bis nach Feuerland.‹
›Acht Monate? Wow! Und gefällst Dir?‹
›Ja. Vor allem Argentinien. Unglaublich. Ich kann mir vorstellen hier zu leben. Die Menschen, die Berge, die Weiten. Ja … die Menschen hier.‹
Sie schaut umher. Neue Busse fahren ein. Andere setzen zurück.
›Und … was machst Du?‹
›Medizin studieren, im fünften Jahr.‹
Ich äußre Respekt. Zünde mir noch eine an. Sie tritt ihre aus. Sie trägt schöne Schuhe. Ich mag Frauen mit flachen Schuhen.
›Wie heißt du?‹
›Noel. Und du?‹
›Schöner Name äh Konrad.‹
›Goa Gon … ruah …Wie?‹
›Konrad. K-O-N-R-A-D. Ich weiß, ist für die meisten Argentinier schwer.‹
Sie grient, und wiederholt.
›Nein, so wie Konrado. Nur ohne o!‹
›Ah!‹
Sie wiederholt.
›Perfekt!‹
Sie lacht. Ein neuer Bus fährt ein. Sie geht. Scheiße! Mein Bus. Völlig vergessen. Warum fragt sie mich überhaupt nach den Busen? Sie kommt zurück.
›Hey! Das ist deiner‹
›Oh gut … und äh deiner?‹
›Kommt später.‹
Ich greife meinen Rucksack. Sie zündet sich eine Neue an.
›Konrad. Wie ist Dein Nachname … hast Du … ‹
›Mein Familienname? Winkler.‹
›Wie?‹
›W-I-N … ‹
›Bist Du bei … ‹ und sie ahmt tippende Händen nach.
›Nein. Aber ich kann Dir meine E-Mail-Adresse geben.‹
Sie zuckt ihr Handy. Ihre Finger zittern, sie tippt falsch.
›Wart mal!‹
Ich greife nach meinem Büchlein.
›Hey, Dein Bus! Dein Bus!‹
›Ja ja. Die Minute hat er noch – Señor conductor!‹
Mist! Die Bleimiene ist lose. Ich zeige aufs Blatt. Sie tippt.
›Was heißt – dein Bus! Was … was ist das für ein Buchstabe?‹
›W!‹
›So?‹
›Ja. Super.‹
›Ich werde eine Woche in Buenos Aires sein.‹
Sie freut sich. Und für einen kurzen Augenblick möchte ich sie verabschieden, wie man das hier so macht. Aber macht man das auch bei ›Fremden‹? Ich spüre ihren Atem. Und drehe mich doch weg, schreite zum Bus und schaue hinter mich. Auch sie schaut hinterher.
›Chao!‹
›Chao!‹
Und die Leute im Bus wollen wissen. Aber ihre Münder bleiben zu. Ich schmunzle, fast schon albern. Und für diesen Augenblick ist die Wehmut verschwunden. Ob sie mir schreiben wird?