Noch einmal S21: Demokratiefeinde und Untertanen

Die Polizei macht den Weg frei – in diesem Fall zum umstrittenen Abriss des Südflügels vom mittlerweile weltbekannten Stuttgarter Hauptbahnhof. Mit einem Großaufgebot an Polizei wurden die Demonstranten weggetragen – ihre Zahl schwankt je nach Zählung zwischen 250 und 500 Abrissgegnern. Zur Absicherung der Baustelle sollen 1.700 Polizisten im Einsatz sein. Dieses Mal sei der Einsatz besser geplant, die Polizei habe zahlreiche „Konflikt-Teams“ im Einsatz und die Räumung sei friedlich verlaufen.

Interessanter als diese Meldung an sich lesen sich aber die Kommentare unter dem Artikel, beispielsweise bei der FAZ. Da wird nämlich sichtbar, wie der aufgeklärte Zeitungsleser tickt. Die verbliebenen Demonstranten seien unverbesserliche Demokratiefeinde heißt es, unheilige Verfassungsfeinde gar, denen man die Kosten für Polizeieinsatz und Bauverzögerung in Rechnung stellen müsse, zur Tilgung der Kosten könnte man Hartz IV für die nächsten 370 Jahre aussetzen, außerdem sei Kretschmann beim „Kommunistischen Bund Westdeutschland“ gewesen (als ob der jetzt vorm Bahnhof gesessen hätte, der muss das Projekt jetzt doch durchdrücken). Die Protestierer sollten endlich mal arbeiten gehen und Geld verdienen, statt anderen auf der Tasche zu liegen (woher wollen die Leser eigentlich wissen, dass die verbliebenen Demonstranten alle arbeitslose Nichtsnutze sind?) und außerdem sollten diese Unbelehrbaren, die sich noch immer weigerten, Mehrheitsmeinungen anzuerkennen, gleich im Schnellverfahren abgeurteilt werden (für was auch immer). Gut, beim Forum der FAZ ist nichts anderes zu erwarten, aber es deprimiert mich doch.

Dampflok im Grünen

Alternative Verwendung von Bahngelände

Es ist ja keineswegs so, dass ich mit den verbliebenen Wutbürgern sympathisiere, dafür finde ich ihre Wut zu blind und ihren Protest zu kurz gedacht: Die kommen immer wieder mit dem Kostenargument, als ob die Kosten bei einem beschlossenen Staatsprojekt eine Rolle spielen würden! Gut, ein paar geologische Bedenken gibt es auch, aber bekanntlich spielen die nicht einmal eine Rolle, wenn ein sicherer Standort für ein Atommüll-Endlager gesucht wird.

Aber jeden, der sich nicht der Mehrheitsmeinung beugt, gleich als Demokratiefeind zu brandmarken – da wird ein Untertanendenken an den Tag gelegt und von anderen verlangt, vor dem es mich gruselt. Es ist doch nicht so, dass eine Mehrheit der Bevölkerung beschlossen hätte, dass Stuttgart endlich einen schicken neuen Bahnhof braucht. Sondern eine Clique aus Geschäftsleuten und Politikern hat sich zusammengesetzt und das Projekt S21 ausgetüftelt, das den Leuten als notwendige Standortpolitik verkauft wurde. Denen war es herzlich egal, solange man nichts davon gesehen hat – wie das so ist mit den Leuten. Erst als die Abrissbagger kamen und die Motorsägen, da rieben sich die Menschen die Augen und fanden es gar nicht in Ordnung, dass da nun alte Bäume gefällt und der schöne Bahnhof abgerissen werden sollte. Und dann gab es, als unübersehbare Tatsachen geschaffen waren und jede Menge über die immensen Kosten lamentiert wurde, die jede weitere Bauverzögerung mit sich brächte – also viel zu spät, um noch irgendetwas Grundlegendes zu entscheiden – tatsächlich eine Volksabstimmung – und eine Mehrheit sagte sich, jetzt, wo sie eh schon angefangen haben, sollen sie das auch fertig machen. Ist ja irgendwie auch vernünftig. Hat aber nichts mit dem zu tun, was die Leute tatsächlich gewollt hätten, wenn man sie ernsthaft gefragt hätte.

So geht Demokratie. Und das finden die Leute, die FAZ lesen, auch in Ordnung. Und wer – aus welchen guten oder schlechten Gründen auch immer – sich nicht beugen will, der ist ein Staatsfeind, Punkt. Kein Wunder, dass „die da oben“ mit den Leuten umspringen können, wie sie mit ihnen umspringen.



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