Corona zerrt an den Nerven. Je länger die Situation so ist, wie sie ist, empfinden wir - und wohl auch andere - den Status quo als immer belastender, wohl wissend, dass uns das Virus noch eine lange Zeit beschäftigen wird. Bevor es keinen Impfstoff gibt, der weltweit flächendeckend zum Einsatz kommen kann, kann und wird sich nicht viel ändern. Umso unverständlicher finde ich, dass Menschen in Gesprächen zuweilen so tun, als sei der ganze Spuk im August oder September vorbei. Da frage ich (mich) manchmal, ob die denn überhaupt noch Zeitung lesen oder Nachrichten schauen. Denn was den Impfstoff betrifft, gehen Fachleute ja mittlerweile eher von 2023 als von 2022 aus. Und dann sind da noch die Warnungen der Weltgesundheitsbehörde WHO, die darauf hinweist, dass es noch keine Beweise dafür gebe, dass Covid-19-Patienten vor einer Zweitinfektion geschützt sind. Eine rosige Zukunft sieht anders aus. Vor diesem Hintergrund sehen wir auch die Diskussionen über mögliche Lockerungen der Einschränkungen mit Sorge. Ja, es ist wahr: In der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland sind Grund- und Freiheitsrechte noch nie in einem solchen Maße beschnitten worden. Und doch war das nötig, um zu verhindern, dass unser Gesundheitssystem kollabiert und wir hierzulande Zustände wie in Bergamo oder New York sehen. Und ja, wir sind bislang sehr gut durch diese Krise gekommen, was den einen oder anderen dazu veranlassen mag, die gravierenden Einschnitte in unser Leben für übertrieben zu halten. Aber, wie wussten schon Virologen zu Beginn des Jahres: Das Schwierige daran, Maßnahmen in einer Pandemie zu vermitteln, sei, dass sie, zum richtigen Zeitpunkt durchgeführt, immer übertrieben wirken. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Dabei bin ich mir wohl bewusst, dass die Verantwortlichen, die, das sei nur am Rande bemerkt, wahrlich nicht zu beneiden sind, vor einem Dilemma stehen. Man kann die Menschen eines Landes nicht über einen längeren Zeitraum einsperren. Da gehen schon Wochen an die Grenze des Erträglichen, von Monaten oder Jahren ganz zu schweigen. Das hat vermutlich auch Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble im Sinn gehabt, als er in einem Tagesspiegel-Interview sagte: „Man tastet sich da ran. Lieber vorsichtig - denn der Weg zurück würde fürchterlich. Aber wenn ich höre, alles andere habe vor dem Schutz von Leben zurückzutreten, dann muss ich sagen: Das ist in dieser Absolutheit nicht richtig. Grundrechte beschränken sich gegenseitig. Wenn es überhaupt einen absoluten Wert in unserem Grundgesetz gibt, dann ist das die Würde des Menschen. Die ist unantastbar. Aber sie schließt nicht aus, dass wir sterben müssen." Das ist sicherlich richtig. Allerdings war und ist für mich das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit sozusagen die Grundvoraussetzung dafür, dass die Würde des Menschen unantastbar ist und bleibt. Insofern tue ich mich nach wie vor noch schwer, gesundheitliche und wirtschaftliche Interessen gegeneinander abzuwägen. Was soll ich sagen? Ich weiß, ich bin da eher noch ein bisschen oldschool. Aber auch ich komme zuweilen ins Grübeln. Jedenfalls bin ich - obwohl ansonsten immer entscheidungsfreudig - froh, bei diesen Fragen nicht entscheiden zu müssen. Andere müssen es, wie zum Beispiel Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, der sich mit einem bemerkenswerten Satz einen Platz in den Corona-Annalen gesichert hat: „Wir werden in ein paar Monaten wahrscheinlich viel einander verzeihen müssen."