Kammerspiele in Filmform sind immer eine Herausforderung für alle. Für Regisseur, für Hauptdarsteller und – wenn es schief geht – für das Publikum. So faszinierend der Gedanke auch ist, mit wenigsten Mitteln und Menschen, eine spannende und eindrückliche Geschichte zu erzählen, so schwierig ist es, diese Aufgabe zu erfüllen. Es gibt ein paar Vertreter der Regie-Zunft, die die Inszenierung von Kammerspielen perfektioniert haben. Roman Polanski ist so ein Regisseur. Sein „Der Tod und das Mädchen“ gehört mit zu den intensivsten Filmerfahreungen, die ich gemacht habe, und das, obwohl nur drei Schauspieler beteiligt sind. Nicht weniger intensiv war „Der Gott des Gemetzels“. Doch nicht nur Polanski beherrscht dieses Genre. Rodrigo Cortes inszenierte 2010 „Buried“, der eineinhalb Stunden nur in einem vergrabenen Sarg spielt. Joel Schumacher gelang 2002 eine passable Fassung von Hitchcock's nie realisierten Traumprojekt „Nicht Auflegen“ über einen Mann, der von einem skrupellosen Erpresser in einer Telefonzelle fest gehalten wird. Zu guter Letzt spielte sich Robert Redford vor Kurzem in „All is Lost“ förmlich die Seele aus dem Leib. Hier gab es nur einen Mann und das Meer.
Regisseur Steven Knight hat nun ein weiteres Experiment gewagt, das vor allem durch absolute Reduktion zu einem wahren Hingucker wird.
Ein Mann steigt ins Auto und fährt los. Der Mann sieht müde aus und so, als gingen einige Dinge in seinem Kopf vor. Nach wenigen Minuten wählt er eine Nummer und man erfährt, dass er ganz unverhofft und dringend nach London fahren muss. Einige Telefonate später wissen wir schon mehr. Ivan ist offensichtlich Bauleiter eines Millionenprojekts und gerade in dieser Nacht ist das Projekt an einem wichtigen und heiklen Punkt angelangt, welches eigentlich seiner uneingeschränkte Aufmerksamkeit bedarf. Doch Ivan sitzt im Auto und fährt nach London. Gleichzeitig findet ein wichtiges Fußballspiel statt und eigentlich wollte Ivan mit seinen Söhnen und seiner Frau einen gemütlichen Fernsehabend verbringen. Aber Ivan sitzt im Auto und fährt nach London. Aus einem ganz bestimmten Grund lässt er sein ganzes stabiles und perfekt funktionierendes Leben hinter sich. Während der Fahrt bemüht er sich nun fieberhaft um Schadensbegrenzung.
Der Grund für Ivans nächtliche Fahrt wird an dieser Stelle übrigens bewusst nicht erwähnt. Überhaupt sollte man über diesen Film im Vorfeld so wenig, wie möglich sehen, oder lesen. Nur dann vermag „No Turning Back“ seine komplette Wirkung zu entfalten. Steven Knight reduziert tatsächlich alles aus dem Film heraus, was man nicht braucht. Auf visueller Ebene passiert nahezu nichts. Tom Hardy sitzt hinter dem Steuer seines Autos und stiert auf die Straße. Man sieht nicht einmal, wie er lenkt, oder schaltet. Selbst diese nebensächlichen Handlungen spart der Film aus. Die Umgebung wird stets unscharf gezeigt. Im Fokus ist immer nur Ivan. Die eigentliche Geschichte wird nur durch die Telefonate transportiert, die man als Zuschauer dank modernster Freisprechanlage mithören kann. Und auf dieser Ebene entfaltet sich das gesamte Drama um Ivan Lockes Person. Durch die reduzierte Darstellung wird man nicht abgelenkt und kann sich voll und ganz auf die Gespräche konzentrieren. Durch diese Gespräche entwickelt der Film die gesamte tragische Figur und nach und nach erschließt sich die Tragweite der Ereignisse.
Dabei funktioniert „No Turning Back“ nicht als Thriller, obwohl dies natürlich der einfachste Weg gewesen wäre, aus so wenigen Mitteln einen packenden Film zu machen. Immer, wenn man denkt, jetzt passiert gleich etwas Aufregendes, Unvorhersehbares, wie ein Unfall, oder eine Polizeikontrolle, klingelt wieder das Telefon und konsequent wird die Struktur des Films aufrecht erhalten, ohne, dass es langweilig wird. Tom Hardy ist ein Schauspieler, den man bisher stets in sehr extremen Rollen sehen durfte. Man erinnere sich an seine Darstellung des charismatischen Bösewichts in „Star Trek Nemesis“, oder sein unvergleichlicher Auftritt in „Bronson“. Nicht zu vergessen seine überzeichnete, aber sehr überzeugende Darstellung in „The Dark Knight Rises“. Als Ivan Locke reduziert er seine Darstellung mindestens genau so stark, wie Steven Knight es mit seiner Inszenierung tut. Tom Hardy tut tatsächlich nicht viel, aber was er macht, ist prägend für seine Figur. Tatsächlich ist Ivan Locke eine Figur, die wesentlich mehr Charakter aufbringen kann, als es in vielen anderen Filmen, die weitaus mehr zeigen und aufwendiger inszeniert sind, gelingen kann.
„No Turning Back“ ist ein echtes Erlebnis. Wenn man sich darauf einlässt, kann der Film mit geringsten Mitteln innerhalb von 90 Minuten das Leben eines Mannes rekapitulieren, über den Haufen werfen und anschließend neu aufbauen. Ob das auch so überzeugend gelungen wäre, wenn man die Geschichte in einem umfangreicheren Rahmen verpackt hätte, ist die große Frage, die wohl nur sehr schwer beantwortet werden kann. Hier vollzieht sich auf jeden Fall der Vorsatz „Weniger ist mehr“ auf eine Art und Weise, wie ich es vorher noch nicht gesehen habe.
Locke (GB, 2014): R.: Stephen Knight; D.: Tom Hardy; M.: Dickon Hinchliffe ; Offizielle Homepage
Kineast im Radio: Immer Sonntags, 14 Uhr auf Radio Lotte Weimar.
Regisseur Steven Knight hat nun ein weiteres Experiment gewagt, das vor allem durch absolute Reduktion zu einem wahren Hingucker wird.
Ein Mann steigt ins Auto und fährt los. Der Mann sieht müde aus und so, als gingen einige Dinge in seinem Kopf vor. Nach wenigen Minuten wählt er eine Nummer und man erfährt, dass er ganz unverhofft und dringend nach London fahren muss. Einige Telefonate später wissen wir schon mehr. Ivan ist offensichtlich Bauleiter eines Millionenprojekts und gerade in dieser Nacht ist das Projekt an einem wichtigen und heiklen Punkt angelangt, welches eigentlich seiner uneingeschränkte Aufmerksamkeit bedarf. Doch Ivan sitzt im Auto und fährt nach London. Gleichzeitig findet ein wichtiges Fußballspiel statt und eigentlich wollte Ivan mit seinen Söhnen und seiner Frau einen gemütlichen Fernsehabend verbringen. Aber Ivan sitzt im Auto und fährt nach London. Aus einem ganz bestimmten Grund lässt er sein ganzes stabiles und perfekt funktionierendes Leben hinter sich. Während der Fahrt bemüht er sich nun fieberhaft um Schadensbegrenzung.
Der Grund für Ivans nächtliche Fahrt wird an dieser Stelle übrigens bewusst nicht erwähnt. Überhaupt sollte man über diesen Film im Vorfeld so wenig, wie möglich sehen, oder lesen. Nur dann vermag „No Turning Back“ seine komplette Wirkung zu entfalten. Steven Knight reduziert tatsächlich alles aus dem Film heraus, was man nicht braucht. Auf visueller Ebene passiert nahezu nichts. Tom Hardy sitzt hinter dem Steuer seines Autos und stiert auf die Straße. Man sieht nicht einmal, wie er lenkt, oder schaltet. Selbst diese nebensächlichen Handlungen spart der Film aus. Die Umgebung wird stets unscharf gezeigt. Im Fokus ist immer nur Ivan. Die eigentliche Geschichte wird nur durch die Telefonate transportiert, die man als Zuschauer dank modernster Freisprechanlage mithören kann. Und auf dieser Ebene entfaltet sich das gesamte Drama um Ivan Lockes Person. Durch die reduzierte Darstellung wird man nicht abgelenkt und kann sich voll und ganz auf die Gespräche konzentrieren. Durch diese Gespräche entwickelt der Film die gesamte tragische Figur und nach und nach erschließt sich die Tragweite der Ereignisse.
Dabei funktioniert „No Turning Back“ nicht als Thriller, obwohl dies natürlich der einfachste Weg gewesen wäre, aus so wenigen Mitteln einen packenden Film zu machen. Immer, wenn man denkt, jetzt passiert gleich etwas Aufregendes, Unvorhersehbares, wie ein Unfall, oder eine Polizeikontrolle, klingelt wieder das Telefon und konsequent wird die Struktur des Films aufrecht erhalten, ohne, dass es langweilig wird. Tom Hardy ist ein Schauspieler, den man bisher stets in sehr extremen Rollen sehen durfte. Man erinnere sich an seine Darstellung des charismatischen Bösewichts in „Star Trek Nemesis“, oder sein unvergleichlicher Auftritt in „Bronson“. Nicht zu vergessen seine überzeichnete, aber sehr überzeugende Darstellung in „The Dark Knight Rises“. Als Ivan Locke reduziert er seine Darstellung mindestens genau so stark, wie Steven Knight es mit seiner Inszenierung tut. Tom Hardy tut tatsächlich nicht viel, aber was er macht, ist prägend für seine Figur. Tatsächlich ist Ivan Locke eine Figur, die wesentlich mehr Charakter aufbringen kann, als es in vielen anderen Filmen, die weitaus mehr zeigen und aufwendiger inszeniert sind, gelingen kann.
„No Turning Back“ ist ein echtes Erlebnis. Wenn man sich darauf einlässt, kann der Film mit geringsten Mitteln innerhalb von 90 Minuten das Leben eines Mannes rekapitulieren, über den Haufen werfen und anschließend neu aufbauen. Ob das auch so überzeugend gelungen wäre, wenn man die Geschichte in einem umfangreicheren Rahmen verpackt hätte, ist die große Frage, die wohl nur sehr schwer beantwortet werden kann. Hier vollzieht sich auf jeden Fall der Vorsatz „Weniger ist mehr“ auf eine Art und Weise, wie ich es vorher noch nicht gesehen habe.
Locke (GB, 2014): R.: Stephen Knight; D.: Tom Hardy; M.: Dickon Hinchliffe ; Offizielle Homepage
Kineast im Radio: Immer Sonntags, 14 Uhr auf Radio Lotte Weimar.