Niedersächsische Musiktage 2016, Thema "Leidenschaft": Balkonszenen, Tanz-Chor-Projekt (Rückblick)

Von Helge

Hier ist ein Wunder geschehen. Ein Wunder der Verschmelzung von Chormusik und Tanz, von Augen-Schönheit und Ohren-Schönheit, von alter und neuer Musik, von unterschiedlichen Tanzstilen (Ballett und Hiphop). Diese Aufführung hat mich atemlos zurückgelassen, atemlos vor Glück darüber, was mit jungen Menschen zustandekommen kann, wenn Kultur auf frei-lassende Weise gefördert wird. Es gehört zu dem Besten, was ich in letzter Zeit erlebt habe, und obwohl ich nicht alle Veranstaltungen besuchen konnte, darf ich diese wohl als einen Höhepunkt der diesjährigen Niedersächsischen Musiktage bezeichnen. Die Aufführung ist (auch) Ergebnis von vivam., dem Musikvermittlungsprogramm der Niedersächsischen Musiktage - vivam: vermitteln, inspirieren, verbinden, aktivieren.

Inspiriert war dieses Projekt von der Romeo-und-Julia-Geschichte, doch kam nur einmal ein Shakespeare-Text vor, und die bekannten Vertonungen spielten überhaupt keine Rolle. Die eine, der andere der Besucher mag sich deshalb gefragt haben, was das mit Romeo und Julia zu tun hat, und warum "Balkonszenen"? Ein professionelles Tanzpaar bewegt sich allerdings teilweise im Vordergrund, er von dunkler, sie von heller Hautfarbe, sie vertreten die großen Liebespaare der Weltliteratur, deren Verbindung nicht anerkannt wird, weil sie gegen Konventionen verstoßen (Katharina Meves und Gabriel Frimpong). Die Hauptrolle aber hat der Landesjugendchor Niedersachsen, rund 60 besonders begabte junge Sängerinnen und Sänger, die bei diesem Projekt nicht nur zu singen hatten, sondern auch in Bewegung gebracht wurden (musikalische Einstudierung Jörg Straube, Choreografie und Regie Louise Wagner). "Im Mittelpunkt steht das Spiel zwischen Form und Leidenschaft", so sagt es der Text im Faltblatt. "Es geht einerseits um die Formstrenge in Musik und Bewegung und andererseits um den Ausbruch, das Chaos und die Leidenschaft, um eine Übertragung der Geschichte von Romeo und Julia ins Abstrakte".

  

Beeindruckend bereits der Beginn: Bei völliger Stille bewegt sich der Chor im Block aus dem Hintergrund nach vorne. Das meditative Element blieb stark während der ganzen Darbietung, die Chormusik war hauptsächlich von Monteverdi, auch von John Dowland sowie von einem zeitgenössischen finnischen Komponisten. "Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel Ordnungen ? ...", so setzt der Chor ein - Text aus der ersten Duineser Elegie von Rainer Maria Rilke, vertont 1993 von dem Finnen Einojuhani Rautavaara. Dann die Madrigale Monteverdis von einer unglaublichen Schönheit und inneren Ruhe. Die Gesänge wurde von einem kleinen Renaissance-Ensemble begleitet: zwei Violinen, Viola da Gamba und Chitarrone. Zum Abschluss ertönte "No longer mourn for me when I am dead - Lass doch dasTrauern, wenn ich von dir ging ..."

Ein versöhnlicher Abschluss, der in die Stille zurückführt.

Weitere Informationen: https://www.musiktage.de/de/konzerte/konzert/657/portfolio

Text: Dr. Helge Mücke, Hannover; Bildquellen von oben nach unten: Franz Bischof, Hannah Schwegel, Pharaography.