Christian Wulff ist nun ein Jahr im Amt und mischt sich zu wenig ein, befinden die Deutschen. Ich finde aber, er macht seinen Job ganz prächtig, denn er hält seinen Mund, gibt keine oder nur ganz wenige Statements ab und verschanzt sich in Bellevue. Damit gibt er dem Amt, das er auskleidet, die Kompetenz, die die Verfassung dafür vorgesehen hat - gar keine!
Das Amt des Bundespräsidenten ist ein repräsentatives, er ist eine neutrale Gewalt im Betrieb der Bundesrepublik. Gesetze unterschreiben darf er - am Gesetzgebungsprozess mitwirken nicht. Das Grüßen, den Arm hoheitsvoll heben und ein lieber August sein: das ist sein Metier. Das Amt des Bundespräsidenten ist ein politisches Nullsummenspiel - es ist ohne Bedeutung, ist leer, nimmt die Rolle eines Ersatzmonarchen ein, der wie in einer konstitutionellen Monarchie von oben herab deutelt und dankt und einen guten Eindruck machen will, grundsätzlich aber nur belangloser Tand ist. Wobei Herrscher einer konstitutionellen Monarchie noch Kompetenzen auf sich vereinen konnten, während es bei seinem profanisierten Gegenstück relativ mager aussieht.
Natürlich hat der Bundespräsident moralische Tugenden anzufachen. Sonntagsreden mit schönem Inhalt, das ist seine Kompetenz. Das hat sich beispielsweise unter Johannes Rau sogar noch nach etwas angehört. Seither (und auch vormals schon) gähnende moralische Leere! Das Amt des Bundespräsidenten ist in einer Zeit, da sich Kandidaten für dieses Amt aus politischen Parteien rekrutieren, die ungefähr soviel moralisches Rückgrat wie Regenwürmer Knochensubstanz besitzen, ein unausgefüllter Sessel. Es ist kaum zu erwarten, dass irgendeiner in dieses Amt gehievt wird, der seiner Partei wirklich die Leviten liest, der Korruption, Lobbyismus, Ausbeutung und soziale Ausgrenzung der unteren Gesellschaftsschichten zungenfertig rügt. Der Schlick, aus dem Bundespräsidenten herauskrebsen, macht keine Dissidenten-Ansichten bellevuefähig. Ethische Koryphäen schwimmen in dem Pool papabiler, oder besser gesagt: bundespräsidentabiler Kandidaten nicht mit - ethische Koryphäen sind Nichtschwimmer.
Nun könnte man sagen, dass es sinnvoll wäre, das höchste und nichtigste Amt dieser Republik mit jemanden auszustaffieren, der nicht aus dieser moralisch-toten Masse der Parteipolitik entstammt. Theologen sind doch Moralisten, glaubt mancher gar irrwegig. Fast hätten wir so einen Mann Gottes, so einen Theo-Lügen dort gehabt. Gauck, der als Freiheitsprophet kündete, dass Freiheit eben nicht bedeute, sich die Freiheit zu nehmen, beim Staat zu betteln, wenn man sich selbst nicht mehr helfen kann... Gauck wäre so ein theokratisch-wirtschaftsliberaler Fanatiker in Bellevue geworden. Freiheit ist, so glaubte er, wenn man sich die Freiheit nimmt, auch nach der hundertzwanzigsten Bewerbungsabsage nicht zu verzagen. Eine weitere imposante Erscheinung auf diesem Posten war der Vorgänger von Aufklärungs-Christian. Der kam nur marginal aus der Politik, hatte zwar ein Parteibüchlein bei den Christdemokraten, war aber bei denen nur selten tätig. So ein Politikfremdling, hieß es damals, der wäre bürgernah und würde auch als moralische Instanz taugen. Seine komplette Amtszeit glänzte er dann neoliberal und am Ende schwadronierte er um Angriffskriege, die ja irgendwie berechtigt seien. Und weil er ja ein Moralist in höchsten Tönen war, trat er auch prompt zurück, als man ihn kritisierte - schließlich ist er Ersatzkaiser und über jede Kritik erhaben, flennte er empfindlich getroffen in die Kameras. Die Leute haben ihn dennoch gemocht: sie haben seinen präsenilen Schimmer von Gesetztheit mit moralischer Integrität verwechselt - das war seine ganze Kunst!
Das Amt des Bundespräsidenten, es war immer irgendwie ein relativ totes Amt. Adenauer hatte das schnell erkannt, nachdem er zuerst erklärte, er würde nun dem Dicken Platz machen, selbst Bundespräsident werden. Als er erfuhr, dass er sich damit selbst ins politische Grab legte, revidierte er flugs seine Pläne und sprang diesem politischen Tod nochmal schnell von der Schippe. Nun aber, in Zeiten, da Moral etwas Gestriges oder Sozialromantisches ist, weil die Einflüsterer aus der Wirtschaft erklären, dass sozialdarwinistische Hypothesen eigentlich mehr sind, nämlich irreversible Thesen, was selbstredend auf die politischen Vasallen abfärbt... in solchen Zeiten, da ist dieses hohe Amt nichtiger als nichtig, toter als tot. Der Effizienzwille hat die Gesellschaft erfasst, alles muß rentabel sein, soll sich rechnen - selbst Kostenneutralität ist schon Verlust, wer soviel einbringt wie er kostet, der ist schon ein Unkostenfaktor. Warum gilt das nicht auch für Bellevue? Warum nicht abschaffen, was keinen Wert hat? Und dabei sind nicht mal Kost und Logis für den BuPrä der ausschlaggebende Punkt. Die arme, politisch totgestellte Sau, die da in Kameras winken soll und immer gute Laune verbreiten muß, die will auch gut gefüttert sein. Aber ist es nicht großherziger und gerechter, wenn man nun die Abschaffung fordert und damit den Kasper aus seinen Winkewinke-Job in Bellevue entlässt?
Eine Win-Win-Situation wäre das allemal. Für das Volk, das keinen ergrauten Onkel benötigt - und für den Onkel selbst, der nicht mehr zum pseudomoralischen Feigenblatt ohne Kompetenz degradiert wäre. Dass McKinsey in Bellevue noch keine Rationalisierung vorgeschlagen hat, das verwundert doch eigentlich sehr...