Nicole Krauss – Das grosse Haus/Great House

Nicole Krauss – Das grosse Haus/Great House

Über 25 Jahre lang arbeitete die New Yorker Schriftstellerin Nadia an einen Schreibtisch, den ihr ein chilenischer Dichter geliehen hat. Eines Tages steht plötzlich eine junge Frau vor Nadias Tür und behauptet, die Tochter von dem Chilenen Daniel Varsky zu sein und fordert den Tisch zurück. Nadia gibt den Schreibtisch breitwillig heraus, bereut es aber schon kurz darauf. Sie hat sich all die Jahre zwar nur als die Hüterin des Tisches betrachtet, aber ohne fehlt ihr doch etwas. Schließlich macht sie sich auf die Suche nach dem hölzernen Möbel und reist nach Israel…

Sehen Sie, wenn wir Muster suchen, tun wir das nur, um herauszufinden, wo es Brüche gibt. Und genau an dieser Bruchstelle schlagen wir unsere Zelte auf und warten.

Nicole Krauss ist schon ein Phänomen für sich. Mir fallen so spontan nicht viele Autoren ein, die mit wenigen Worten, die eigentlich der Geschichte an sich gewidmet sind zugleich so viel von sich selbst erzählen. In “Das grosse Haus” geht es nicht um die Handlung an sich sondern um das zerbrechliche Innenleben der Charaktere. Krauss schlüpft in verschiedene Rollen und schreibt Textfragmente, die, wie es scheint zunächst nichts miteinander zu tun haben. Sie hangelt sich sozusagen von Bruchstelle zu Bruchstelle und verfolgt so den Weg des Möbelstücks, eine Art trojanisches Pferd in Gestalt eines monströsen Schreibtisches.

Die Frage indes war immer noch da, und meine Gedanken kehrten zu ihr zurück wie eine Zunge, die das weiche Fleisch an der Stelle eines fehlenden Zahns befühlt: Es tat weh, aber ich wollte es wissen.

“Das grosse Haus” erzählt weniger die Reise des Schreibtisches selbst sondern von den vielen (nicht nur imaginären) Reisen, die an eben jenen Tisch angetreten worden sind. Es geht um Liebe, um die Träume, Gefühle, eben um die Wetterlage im Inneren. Es ist schon erstaunlich, wie Krauss ihre Fäden um den Dreh- und Angelpunkt des Romans, den großen Schreibtisch webt. Vier Erzählstimmen mit völlig unterschiedlichen Ausgangspunkten streben auf einen Punkt zu. Die Erzählstruktur spiegelt sehr schön den Schreibtisch an sich wieder, verschiedene Schubladen öffnen sich, doch eine bleibt bis zum Schluss verschlossen. Ich bin während des Lesens oft verloren gegangen, habe nicht so genau gewusst, wer jetzt eigentlich erzählt und ob es überhaupt einen Zusammenhang gibt. Letztendlich bleibt ausgerechnet das, worum es eigentlich geht im dunkeln.

Es tat weh, mir das einzugestehen, aber ich hatte schon immer diesen Verdacht gegen mich gehegt, die kleine Lüge unter der Oberfläche meiner Zeilen geargwöhnt, die darin bestand, dass ich die Wörter gleichsam zur Dekoration anhäufte, während er alles mehr und mehr abstreifte, bis er sich gänzlich entblößt hatte…

Was mir bei diesem Roman fehlt ist ein roter Faden, eine Struktur, ein Muster, das mich durch die Geschichte führt oder zumindest einen Weg erahnbar macht. Und vielleicht ist die Geschichte, die man nicht wirklich als abgeschlossene Geschichte sondern viel mehr als eine Ansammlung an Fragmenten bezeichnen kann auch zu überfrachtet. (Zu?) Viele düstere Episoden aus der Vergangenheit werden angeschnitten und auch die Protagonisten tragen handfeste Probleme mit sich herum. Ich denke, das Zitat oben, dass eigentlich aus Nadias Feder stammt spiegelt Krauss’ eigene Bedenken während der Entstehungszeit wieder. Und, wie es für die Autorin – und auch deren Ehemann Jonathan Safran Foer- typisch ist bleibt auch eine Reminiszenz an das Judentum nicht aus. Nicole Krauss bezieht sich in “Das grosse Haus” auf die gleichnamige Schule nach ben Zakkai. Der ungarische Jude Weisz, eine der Erzählstimmen in Krauss’ Roman erinnert sich an die Erörterung seines Vaters:

Zweitausend Jahre sind vergangen, [...] und heute ist jede jüdische Seele um das Haus herum gebaut, das im Feuer verbrannt ist, so groß, dass sich jeder Einzelne von uns nur an ein winziges Bruchstück erinnern kann: ein Muster an der Wand, einen Ast im Holz einer Tür, eine Erinnerung an den Lichteinfall auf dem Fußboden. Aber wenn alle jüdischen Erinnerungen, die jedes Einzelnen, zusammengebracht und auch das letzte heilige Bruchstück dem Ganzen hinzugefügt würde, könnte das Haus wiederaufgebaut werden…

Als ich “Die Geschichte der Liebe” (ich habe sie auf englisch gelesen: “the history of love”) gelesen habe war ich zutiefst beeindruckt und erschüttert. Diese Geschichte klingt heute noch in mir nach. Von “Das grosse Haus” kann ich das leider in der Form nicht behaupten. Das Potential ist durchaus da, aber mit diesem Roman geht es mir wie an einen Stand voller Schmuckstücke: von der Masse bin ich geblendet und fasziniert, aber sobald ich die Details genauer unter die Lupe nehme, verschwindet der Zauber und zurück bleibt nur die Enttäuschung. Vielleicht ist es manchmal ja wirklich besser, nicht zu genau hinzusehen. Aber mein Anspruch an einen Roman ist nun mal einfach der, dass er auch meinen Blick stand halten sollte. “Das grosse Haus” zerbricht darunter leider, die Statik der Geschichte setzt zu sehr auf Bruchstücke.

Im Leben sitzen wir am Tisch und wollen nicht essen, und im Tod sind wir ewig hungrig.

[coming soon: english version]



wallpaper-1019588
Time Patrol Bon: Neuer Trailer zeigt Theme Songs
wallpaper-1019588
Rinkai! – Neuigkeiten zum Cast bekannt gegeben
wallpaper-1019588
#1490 [Review] Manga ~ Cross Account
wallpaper-1019588
Physiotherapeut Tobias Herrmannsdörfer im Interview – MTP Folge #093