“Nichts ist so erlabend, wie ein Elternabend”

Der juristische Beistand des Familienbetriebs hat mir angeraten, vor den folgenden Artikel einen Hinweis einzufügen, um zu verhindern, dass die Kinder ihrer Schule verwiesen werden:

„Meine Tochter und mein Sohn gehen auf die beste Schule Berlins, wenn nicht gar Deutschlands, wo sie von den kompetentesten und fähigsten Lehrerinnen und Lehrern nach den modernsten bekannten pädagogischen Methoden unterrichtet werden. Ihre Mitschülerinnen und Mitschüler sind alle reizend und liebenswert, was nicht verwundert, da sie ausnahmslos von engagierten, reflektierten und sympathischen Eltern großgezogen werden. Die Elternabende, die ich besuchen durfte, waren für mich durchweg ein Quell der Inspiration, des intellektuellen Austauschs sowie der Kurzweil. Ich könnte mir keine bessere Schule für meine Kinder wünschen.

Daher möchte ich betonen, dass der nachfolgende Artikel kein Abbild der Realität darstellt, sondern Ausdruck meines gestörten Verhältnisses zur Wahrheit sowie meiner pinnocchioesken Phantasie und meiner narzisstischen Geltungssucht ist. Dafür möchte ich mich entschuldigen.“

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„Nichts ist so erlabend, wie ein Elternabend“

Diese Zeilen eines Reinhard Mey-Lieds wandern mir durch den Kopf, während ich mit dem Rad zur Schule der Kinder fahre. Wahrscheinlich gibt es nur wenige Eltern, die dieser Aussage zustimmen würden – zumindest ohne Einnahme bewusstseinserweiternder Rauschmittel beziehungsweise hochprozentiger Alkoholika. Erklärbar ist das Zustandekommen dieser Zeilen eigentlich nur, wenn der gute Herr Mey nie einen Elternabend besucht hat – was eher unwahrscheinlich ist, da er drei Kinder hat. Oder er hat selbst halluzinogene Pilze genascht, die ihn zu diesem Text inspirierten. [Anmerkung der Redaktion: Auf Anraten des juristischen Beistands stelle ich klar, dass ich keine Kenntnis davon besitze, dass der Liedermacher Reinhard Mey Drogen oder irgendwelche Halluzinogene konsumiert, um Einfälle für seine Liedtexte zu bekommen.]

Bin jedoch nicht zu einem gewöhnlichen Elternabend unterwegs, sondern zur Gesamtelternvertreter-Versammlung, zur GEV. Wenn ein normaler Elternabend gemeinhin als elterliche Vorhölle gilt, ist die GEV das Wohnzimmer des Teufels hochpersönlich. Viermal pro Schuljahr treffen sich die Elternvertreterinnen und –vertreter der Klassen 1-10, um die Geschicke der Schule zu diskutieren. Bei den Elternvertreterinnen und –vertretern handelt es sich um einen ganz besonderen Schlag Mensch, der zu allem eine Meinung hat und einen unbändigen Drang besitzt, diese auch kundzutun. Erst wenn alle alles und noch viel mehr gesagt haben, kann eine GEV-Sitzung beendet werden. So will es das Gesetz.

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Dass ich zur GEV muss, ist dem Umstand geschuldet, dass ich vor ein paar Jahren zum Elternabend der Tochter zehn Minuten zu spät kam, da ich an der Arbeit aufgehalten wurde. Als ich die Tür des Klassenzimmers öffnete, schauten mich die anderen Eltern erwartungsfroh an. Die Klassenlehrerin erklärte, dass die bisherige Elternvertreterin umzugsbedingt das Amt nicht weiter ausüben könne. Deswegen sei ein Ersatz nötig und sie habe da an mich gedacht.

Ungeschickterweise brachte ich nur ein skeptisches „Ja?“ hervor, was von den anderen Eltern als ein affirmatives „Ja!“ gedeutet wurde. Ihre sofort einsetzenden Standing Ovations machten es mir quasi unmöglich, das Missverständnis aufzuklären. Insbesondere weil die Klassenlehrerin beherzt meine Hand ergriff und mir zur Wahl gratulierte. Fast vier Jahre sind seitdem vergangen, in denen ich es nicht geschafft habe, das Amt des Elternvertreters wieder abzugeben.

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Radle missmutig durch den Berliner Feierabendverkehr. Betrete schließlich ein Klassenzimmer in der Schule, das schon sehr gut gefüllt ist. Finde zum Glück einen Platz ganz hinten in der Ecke. Fühlt sich an wie früher als ich in der Schule immer versuchte, eine größtmögliche räumliche Distanz zwischen mir und dem Lehrkörper zu wahren.

Es ist schon sieben Uhr durch, aber niemand scheint sich daran zu stören, dass der Elternabend noch nicht begonnen hat. Die anderen Eltern unterhalten sich angeregt über die Erlebnisse der zurückliegenden Sommerferien.

Da betritt der Schulleiter mit gemächlichem Schritt den Raum. Mit seinen weißen Locken und seinem weißen Vollbart hat er eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Sandmännchen. Diesen Eindruck verstärkend schlägt er ein dickes Buch auf und eröffnet die Sitzung mit einer Geschichte. Sie handelt von Geduld, Sanftmut und dem Warten. Die Eltern lauschen ergriffen. Mich beschleicht das ungute Gefühl, dass das Warten auch das Motto des heutigen Abends sein könnte.

Der Schulleiter beendet die Geschichte, klappt das Buch zu und schaut bedächtig in die Runde. Danach heißt er die Anwesenden ausschweifend willkommen. Es sei ein ganz besonderes Schuljahr, da die Schule dieses Jahr ihr 70-jähriges Gründungsjubiläum feiere. Dies nimmt er zum Anlass für einen kursorischen Überblick über die letzten 70 Jahre der Schule.

Am Ende seiner Begrüßung lädt der Schulleiter alle ein, bei dem Salzgebäck, das vom letzten Schulfest übrig sei und auf den Tischen verteilt wurde, zuzugreifen. Nehme das Angebot gerne an, da ich vor dem Elternabend keine Zeit hatte, etwas zu essen. Allerdings sind die Salzstangen von eigenartiger poröser Konsistenz und auch geschmacklich eher grenzwertig – und zwar jenseits der Grenze des guten Geschmacks. Möglicherweise handelt es sich um Reste des ersten Schulfestes von vor 70 Jahren.

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Während ich versuche, die in Stangenform gepresste Wüste Gobi herunterzuschlucken, beginnt der zweite Tagesordnungspunkt: Die Vorstellung der musikalischen Grundschule – ein Attribut, mit dem sich die Schule seit Beginn des Schuljahrs schmücken darf. Eine resolute Musiklehrerin von walkürenhafter Gestalt mit gleichermaßen wallendem Haar wie Gewand stellt das Konzept vor, nach welchem musikalische Elemente in alle Fächer zu integrieren seien und beispielsweise ab und an Lieder angestimmt werden sollen, um störende und zappelige Kinder zu beruhigen.

Die Dame schlägt vor, es gleich einmal auszuprobieren. Alle Eltern erheben sich folgsam und auf die Melodie von „Im Frühtau zu Berge“ singen wir „Im Kühlschrank die Zwerge“.

Suche unauffällig den Raum nach möglichen versteckten Kameras ab. Erwarte, dass gleich der wiederauferstandene Kurt Felix aus dem Schrank springt und ruft: „Verstehen Sie Spaß?“ Aber nichts dergleichen geschieht. Stelle überrascht fest, dass die anderen Eltern mit großem Enthusiasmus mitmachen und sich mit leicht arhythmischen Bewegungen ihrer Oberkörper in einen tranceähnlichen Zustand singen.

Der Schulleiter bedankt sich mit blumigen Worten bei der Musiklehrerin für ihr unermüdliches Engagement und insbesondere für die gemeinschaftsstiftende Singerfahrung. Die anderen Eltern klopfen zustimmend auf die Tische.

Ein verstohlener Blick auf die Uhr verrät mir, dass bereits mehr als eine halbe Stunde vergangen ist, aber erst ein Bruchteil der umfangreichen Tagesordnung abgearbeitet ist.

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Der Schulleiter beginnt nun mit dem nächsten Tagesordnungspunkt und redet über den überfälligen Umbau der Schule. Er führt aus, die Schule stoße an ihre Kapazitätsgrenzen, die Technik sei hoffnungslos veraltet und die sanitären Einrichtungen bedürften einer umfassenden Renovierung. Dabei macht er ein leidendes Gesicht als habe er Durchfall, könne aber keine der dringend zu sanierenden Toiletten aufsuchen. Die Eltern schauen betroffen, als hätten sie gerade erfahren, ihre Kinder würden in vergammelten Jurten auf Schiefertafeln unterrichtet und müssten ihre Notdurft in Plumpsklos auf dem Schulhof verrichten.

Glücklicherweise ist der Architekt anwesend, der mit der Planung des Umbaus beauftragt ist. Ihm wird das Wort erteilt, die Umbaupläne vorzustellen. Habe nach seinem mehr als 50 Powerpoint-Folien umfassenden Vortrag den Eindruck, dass die Schule in eine Art Raumschiff Enterprise umgebaut und mit den neuesten interaktiv-multimedialen Kommunikationstechnologien ausgestattet wird.

Versuche, mir vorzustellen, wie die Lehrerinnen und Lehrer die neuen Hightech-Smartboards einsetzen, indem sie komplexe Mathematik- oder Geographie-Programme über ein Tablet steuern. Dabei kommt mir mein alter Englischlehrer in den Sinn, der immer mit spitzem Finger nach dem Zufallsprinzip auf die Tasten des Kassetten-Rekorders einstach, um das Gerät für unsere regelmäßigen „Listen and Repeat“-Lektionen zum Laufen zu bringen. Ein Unterfangen, das nie vor dem dritten Versuch klappte.

Anstatt den Architekten mit ein paar Worten des Dankes in den nicht mehr ganz so jungen Abend zu entlassen, gibt der Schulleiter zu meinem Unmut den Eltern die Möglichkeit, Nachfragen zu stellen. Die lassen sich nicht lange bitten und bombardieren den Architekten mit ihren Fragen. Ein kerniger Mann, der mit seiner sonnengegerbten Haut, einem buschigen Bart und ein paar ausgelatschten Birkenstocksandalen, zu denen er selbstgestrickte Schafwoll-Socken trägt, aussieht, als sei er anno 1983 Mitglied der ersten Grünen-Bundestagsfraktion gewesen, will in forderndem Ton wissen, ob der Umbau auch den Prinzipien des energetischen Bauens folge und ausschließlich ökologisch unbedenkliche Materialien zum Einsatz kämen. Eine leicht esoterisch angehauchte Mutter ergänzt, die Einrichtung der Klassenzimmer möge bitte streng nach Feng-Shui-Regeln erfolgen, damit ein frei fließendes Qi ihrer Tochter ein optimales Lernumfeld bietet. Ein Vater im Nadelstreifenanzug wirft ein, die neuen Bildschirme bräuchten die höchstmögliche Auflösung, da sein Sohn sonst Kopfschmerzen bekäme.

Mir fällt keine adäquate Frage ein, mit der ich einen sinnstiftenden Beitrag in diese Unterhaltung einbringen könnte. Erinnere mich lediglich, dass es früher bei Raumschiff Enterprise die so genannte ‚Oberste Direktive‘ gab, nach der sich die Sternenföderation nicht in die Angelegenheit fremder Völker einmischen durfte. Ein Grundsatz, den ich gerne auf diese ausufernde Diskussion angewandt wüsste, damit der Architekt seine Arbeit unbehelligt von den absurden Phantastereien der Eltern verrichten kann.

Der Schulleiter hat schließlich ein Erbarmen und beendet die Fragerunde mit der Bemerkung, der ganze Umbau stünde unter Finanzierungsvorbehalt. Der Architekt darf gehen. Biete mich an, ihn nach draußen zu begleiten, aber zu meinem Bedauern sagt er, er kenne den Weg. Verdammt! Das wäre meine Chance gewesen, mich unauffällig zu verdrücken.

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Der Elternabend hat inzwischen fast die Dauer eines Fußballspiels erreicht. Der Schulleiter wirkt immer noch motiviert und heißt ein älteres Ehepaar willkommen, dem Gelegenheit eingeräumt wird, ein so genanntes Elterntraining vorzustellen. Mit Hilfe einer von WordArt-Grafiken verunstalteten Präsentation dozieren die beiden, dass immer mehr Eltern nach Unterstützung und Orientierung in der Kindererziehung suchten. Nach mehr als 20 Minuten des Vortrags ist mir schleierhaft, was gerade die beiden qualifiziert, diese Unterstützung und Orientierung zu bieten – abgesehen davon, dass sie selbst sechs Kinder groß gezogen haben, von denen anscheinend keines in einer Jugendstrafanstalt gelandet ist.

Zur Auflockerung der etwas drögen Stimmung schlage ich der neben mir sitzenden Mutter vor, statt des Trainings für Eltern sei es vielleicht eine bessere Alternative, die eigene verzogene Brut in ein Boot-Camp zu schicken, damit ihnen Manieren und elterlicher Respekt beigebracht werden. Humoristisch scheinen die Frau und ich allerdings nicht ganz auf einer Wellenlänge zu liegen, denn sie schaut mich indigniert an und sagt, ihr Sohn sei sehr sensibel und sie könne sich beim besten Willen nicht vorstellen, ihn in eine solche menschenfeindliche Einrichtung zu schicken. Stelle fest, dass Elternabende anscheinend ironiefreie Zonen sind.

Zu meinem größten Erstaunen beschließen die Elternvertreterinnen und –vertreter nicht, die beiden selbsternannten Erziehungsexperten zu verjagen und auch der Schulleiter macht nicht von seinem Hausrecht Gebrauch, um die beiden des Schulgeländes zu verweisen. Im Gegenteil zeigen die Eltern großes Interesse an dem Angebot, stecken Flyer ein und vereinbaren Trainingstermine für ihre Klassen. Fühle mich sehr einsam.

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Es ist inzwischen schon nach 21 Uhr als der Vorsitzende des Fördervereins denselbigen vorstellen darf. Wenig überraschend hat der Verein nicht genügend Mitglieder und die finanziellen Mittel sind zu beschränkt, um all die tollen Projekte an der Schule zu unterstützen, zum Beispiel einen Lern-Kräutergarten.

Sein Lamento überschreitet die 15-Minuten-Grenze.Spiele mittlerweile ernsthaft mit dem Gedanken, einen Kleinkredit aufzunehmen, um den Schulgarten aus eigener Tasche zu finanzieren, damit dem Vortrag ein Ende bereitet wird. Nachdem alle Anwesenden hoch und heilig versprochen haben, auf dem nächsten Elternabend in ihren Klassen Werbung für den Förderverein zu machen, kann dieser Tagesordnungspunkt abgeschlossen werden.

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Die Uhr zeigt inzwischen kurz vor zehn. Bei Star Trek gab es immer wieder Episoden, in denen das Raumschiff und die Besatzung durch Risse im Raum-Zeit-Kontinuum in Zeitschleifen gefangen waren, aus denen es fast kein Entrinnen gab. Kann sehr gut nachvollziehen, wie sich das angefühlt haben muss und befürchte, das Klassenzimmer nie wieder verlassen zu können.

Im Gegensatz zur Besatzung der Enterprise verfüge ich bedauerlicherweise über keine Photonentorpedos, die zum Einsatz kamen, um das Raum-Zeit-Kontinuum zu kitten. Habe nur einen knurrenden Magen, der bei der Lösung des Problems leider nicht dienlich ist.

In diesem Moment klopft es an die Tür, der Hausmeister schaut rein und erklärt, es sei jetzt 22 Uhr und er schlösse unten die Eingangstür ab. Ein Lächeln huscht über mein Gesicht. Bevor er die Eingänge verriegelt, müssen wir natürlich das Gebäude verlassen. Er ist meine Rettung, mein menschgewordener Photonentorpedo, mein Ritter in schillernder Rüstung (wenn man seinen grauen, leicht speckigen Hausmeister-Kittel so bezeichnen möchte).

Irritierenderweise sagt der Schulleiter, das sei überhaupt kein Problem, dann würde er selbst nachher alle rauslassen. Er wünscht dem Hausmeister noch einen schönen Feierabend und fährt mit der Tagesordnung fort. In mir steigt ein geradezu unbändiger und ohnmächtiger Hass hoch. Warum darf der Hausmeister Feierabend machen und ich muss in der Elternabend-Hölle schmoren?

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Als nächstes stehen die Wahlen an und es wird unruhig im Raum. Ein Vater meldet sich freiwillig als Wahlleiter. Ein geradezu genialischer Schachzug, da er nun nicht mehr für einen der unzähligen Posten gewählt werden kann. Zu vergeben sind so bedeutungsvolle Ämter wie Elternsprecher/in, Bezirkselternausschuss-Vertreter/in, stimmberechtigtes Mitglied der Schulkonferenz, beratendes Mitglied für die Gesamtkonferenz und mehrere beratende Mitglieder für Fachkonferenzen.

Nun gilt es, sich möglichst unauffällig zu verhalten und unnötige Aufmerksamkeit zu vermeiden.

Allerdings beherrschen auch die anderen Eltern die Disziplin des Wegduckens nahezu in Perfektion. Das ganze Wahlprozedere gestaltet sich äußerst zäh. Da aber mehr Ämter als anwesende Personen zu vergeben sind, ist es unvermeidlich, dass hier niemand den Raum verlässt, ohne einen Posten übernommen zu haben. Überlege, eine Ohnmacht vorzutäuschen.

Da wird es dem Vater neben mir zu bunt. Er steht auf – ein Hüne von fast zwei Metern und geschätzten 120 Kilo – und ruft mit dröhnender Stimme in den Raum, er müsse morgen früh aufstehen und Leben retten und damit das Ganze hier mal vorankomme würde er sich jetzt zum Vertreter für den Bezirkselternausschuss wählen lassen. Tosender Beifall bricht aus.

Angestachelt durch die enthusiastischen Beifallsbekundungen springe ich zu meiner eigenen Überraschung ebenfalls auf und erkläre, um mein eigenes Leben zu retten und um nicht in diesem Raum elendiglich zu verenden, wäre ich ebenfalls bereit ein Amt zu übernehmen. Irgendeines. Am liebsten den Tafeldienst.

Die Reaktionen sind eher verhalten und die meisten der anderen Eltern schauen vor Fremdscham auf den Boden. Ich werde zum Vertreter der Schulkonferenz ernannt. Wahrscheinlich weil die anderen Eltern vermuten, dass ich dort am wenigsten Schaden anrichten kann.

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Als die Wahlen nach gut 60 Minuten endlich vorbei sind, verkündet der Schulleiter, jetzt gäbe es nur noch den Punkt ‚Verschiedenes‘. In der naiven Annahme, dies sei nur eine Formalität, packe ich meinen Block und Stift weg. In diesem Moment schnellen jedoch mindestens zehn Hände in die Höhe, um trotz der fortgeschrittenen Stunde noch ihre unaufschiebbaren und an Trivialität kaum zu überbietenden Anliegen vorzubringen.

Der erste Vater beklagt die untragbaren hygienischen Zustände der Toiletten, deren Verschmutzungs- und Verwahrlosungsgrad unannehmbar sei. Er schlägt vor, die Toiletten durch lustige Aufkleber zu verschönern, beispielsweise mit Diddl-Mäusen. Finde eigentlich, dass Diddl-Mäuse durchaus gut zu Orten passen, an denen Fäkalien abgesondert werden. Gleichzeitig muss ich allerdings aufkommende Gewaltphantasien bekämpfen, in denen ich den Herrn mit ein paar kräftigen Ohrfeigen zum Schweigen bringe. Und das als ehemaliger Zivildienstleistender, der den Dienst an der Waffe verweigert hat. Bin verstört.

Eine Mutter meldet sich zu Wort und bemängelt die prekäre Parkplatzsituation vor dem Schulgebäude, die es erheblich erschwere, ihren Sohn mit dem Auto zur Schule zu bringen. Der Öko-Vater unterbricht sie und fordert ein größeres Angebot des Schulkiosks für laktoseintolerante Kinder, die sich vegan ernähren. Eine Mutter ereifert sich, dass es ihre Tochter nicht immer schaffe, pünktlich zur ersten Stunde zu erscheinen, die Lehrerinnen und Lehrer aber dennoch mit dem Unterricht begönnen.

Nachdem mehr als 45 Minuten die absurdesten Beschwerden und Klagen vorgetragen wurden, wächst meine Skepsis gegenüber der Korrektheit evolutionärer Fortschrittstheorien. Dietmar Wischmeyer hatte bestimmt solche Elternvertreterinnen und -vertreter vor Augen, als der den Begriff ‚Evolutionsverweigerer‘ kreierte.

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Endlich hat der Schulleiter ein Einsehen: Er bedankt sich für den produktiven und anregenden Elternabend und schlägt vor, diesen beim Griechen gegenüber ausklingen zu lassen. Die anderen Eltern klatschen enthusiastisch Beifall. Mir treibt die Vorstellung diese grotesk dadaistischen Diskussionen fortführen zu müssen, den Angstschweiß auf die Stirn.

Renne aus dem Klassenzimmer und verlasse das Schulgebäude, indem ich den Notausgang öffne. Wenn dies kein Notfall ist, weiß ich nicht, für was diese Tür konzipiert wurde.

Steige auf mein Rad und fahre nachhause. Auf dem Gepäckträger sitzt Reinhard Mey und singt „Gute Nacht, Freunde“.


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