Nicht nur nein sagen!

Von Jens Voeller
Seien wir mal ehrlich, wer will schon über Steuersysteme und deren Reformen diskutieren? Ich will es eigentlich nicht, denn: der Gegenstand ist so komplex, dass er selbst von Experten (wozu ich sicher nicht gehöre) nicht beherrscht wird; die damit verbundenen Interessen sind in ihrer Vielfalt kaum zu überblicken; die beabsichtigten und tatsächlichen Wirkungen einer Steuer stimmen oft nicht überein und sind zudem hochgradig umstritten; die Debatte konvergiert nicht gegen eine Einigung (oder zumindest eine Mehrheitsposition) und artet meist in eine Keilerei mit verhärteten Fronten aus. Kurzum: eine Steuer-Debatte endet immer unbefriedigend.
Und dennoch: man muss sich beteiligen, will man nicht Leuten wie Philipp Rösler oder Paul Kirchhof das Feld überlassen (oder einfach Leuten, für deren schlichtes Gemüt immer alles ganz einfach ist). Seitdem die Bundesregierung Steuersenkungen angekündigt hat, schlagen die Wogen hoch. Man kann froh sein, dass die Ankündigung ein Kommunikations-Desaster war. Man muss es wohl absurd nennen, wenn dauerhafte Steuersenkungen mit der Konjunktur begründet werden.

Vorsicht ist geboten
Aber man muss auch vorsichtig sein, denn es ist andererseits doch so: man kann dieser Regierung vieles vorwerfen, dass sie sich nicht an ihre Wahlversprechen hielte, gehört in der Frage der angestrebten Steuersenkungen nicht dazu. Die FDP hat mit einem monothematischen Wahlkampf, der fast ausschließlich auf Steuersenkungen basierte, ein Rekordergebnis eingefahren – und das in Zeiten der Finanzkrise und einer beispiellos schlechten konjunkturellen Phase. Das ist ein klares Mandat. Unions-Wähler mussten damit rechnen, mit ihrer Stimme die Steuersenkungen mitzuwählen. Es mag ja eine gesellschaftliche Mehrheit gegen Steuersenkungen geben, nur ist sie eben selbst schuld, wenn sie im Bundestag keine Mehrheit hat.

Die Absicht der Regierung
Wenn es für eine Verhinderung des Regierungsvorhabens dieses Mal trotzdem ausreicht, dass Opposition und politische Kommentatoren einfach "nein" sagen, dann wohl auch deshalb, weil die Regierung es selbst verbockt hat: sie hat mit ihrer stümperhaften Kommunikation den Widerstand in den eigenen Reihen, bei den Unions-Ministerpräsidenten, geradezu heraufbeschworen. Es liegt sogar die Vermutung nahe, dass selbst innerhalb der Regierung das Vorhaben keine Mehrheit hat, denn: aus fiskalischer Sicht kann sie an Steuersenkungen kein Interesse haben, das wird am Störfeuer des Finanzministers deutlich. Indem sie das Vorhaben auf die lange Bank geschoben hat, nimmt sie in Kauf, dass die vorgeschobene Begründung (nämlich die gute Konjunktur) entfällt und der Finanzierungsvorbehalt aus dem Koalitionsvertrag greift. Etwas, das um anderthalb Jahre verschoben wird, hat keine Priorität (bei der kurzatmigen Politik dieser Regierung sind anderthalb Jahre eine Ewigkeit). Der eigentliche Zweck der angekündigten Steuersenkung, nämlich die Rettung der FDP, könnte Anfang 2013 aus fiskalischer Sicht sogar kostenlos zu haben sein: wenn das Vorhaben spätestens im Bundesrat am Widerstand der Opposition scheitert, kann sich die FDP als Anwalt der Steuerzahler in Pose werfen und die Opposition als Blockierer brandmarken. Michael Spreng hat vollkommen recht, wenn er sagt: Der Weg ist das Ziel.

Gefahren für die Opposition
Das ist genau die Falle, in die die Opposition hineinzulaufen droht: als Nein-Sager dazustehen. Diese Rolle ist gerade für politische Kräfte, die sich selbst als progressiv verstehen, besonders undankbar – bedeutet ihre Defensive doch, dass nicht nur ein sozialer Fortschritt nicht erzielbar ist, sondern sogar ein sozialer Rückschritt droht. Die Gefahr, in eine solche Blockierer-Rolle zu geraten, droht nicht nur den Oppositionsparteien und sie droht nicht nur angesichts des nun verschobenen Regierungsvorhabens; nein, sie droht in der Steuerdebatte generell allen, die an der sozialen Ausgleichsfunktion der Einkommensteuer festhalten wollen, wenn radikale Vorschläge wie das Kirchhof-Modell die Debatte bestimmen.
Ein Beispiel für die Fallstricke, die eine Steuerdebatte bereit hält für jeden, der sich gegen Steuersenkungen ausspricht, lieferte die Phönix-Sendung "Augstein und Blome" vom 24. Juni. Darin argumentiert Jakob Augstein mit dem Vorrang des Abbaus von Staatsschulden gegen Steuersenkungen (eine für einen bekennenden Linken nicht ungefährliche Argumentationsweise, wenn man bedenkt, das mit der gleichen Begründung auch gerne Ausgabenkürzungen gerechtfertigt werden). Daraufhin hält ihm Nikolaus Blome vor, er (Augstein) wolle doch eigentlich die Steuern erhöhen. Das ist einfach nur dreistes, unredliches Debattieren und wäre keiner Erwähnung wert, würde damit nicht eine Verlagerung der Begründungslast einhergehen. Denn bei wem liegt die Begründungslast, wenn nicht bei dem, der politische Veränderungen erreichen möchte? Der Status Quo ist schließlich das Ergebnis eines politischen Aushandlungsprozesses, ein Resultat (früherer) politischer Mehrheiten und durch diese legitimiert. Blome tut nun so, als wolle nicht er (bzw. die Regierung) eine Veränderung, sondern Augstein. Dass Herr Blome eine Verlagerung der Begründungslast auf die Gegner von Steuersenkungen will, wird auch im späteren Verlauf der Diskussion nur zu deutlich. Das dem zugrunde liegende, problematische Politik- und Demokratieverständnis wird ihm von Jakob Augstein leider nicht entgegen gehalten (genau so wenig wie die inhaltliche Argumentationsnot, die sich in Blomes Vorgehen offenbart).
Radikale Vorschläge, die vor allem auf eine massive Entlastung hoher Einkommen hinauslaufen, werden gerne garniert mit Details (winzige Entlastungen kleiner Einkommen) und präsentiert mit Schlagworten (Vereinfachung!), gegen die – an und für sich – niemand etwas haben kann. Als schmückendes Beiwerk gibt es dann noch ein paar Zahlen-Beispiele, die den Vorschlag in einem positiven Licht darstellen, die soziale Realität aber meist nur unzureichend abbilden. Dadurch wird die propagierte Radikallösung dann so schwer angreifbar.
All dies zeigt, wie und warum man schnell in die Defensive gerät, wenn man auf etwas besteht, das eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein sollte: ein sozial gerechtes, d.h. nach Leistungsfähigkeit differenzierendes Steuersystem, das dem Staat genug Spielraum zur Bewältigung seiner Aufgaben lässt. Man tut deshalb gut daran, sich zu rüsten, vor allem mit der konkreten Benennung von Gegenstand und Gründen seiner Ablehnung, vielleicht auch mit Gegenvorschlägen.

Das Kirchhof-Modell
Eine Diskussion um die Einkommensteuer kann man vielleicht konzeptionell etwas entwirren, indem man die folgenden drei Aspekte durchgängig trennt:
  1. das Steueraufkommen,
  2. die Tarifstruktur, d.h. die Abhängigkeit des Steuertarifs vom zu versteuernden Einkommen,
  3. die Berechnung des zu versteuernden Einkommens.
Der erste Schritt auf dem Weg zu einer umfassenden Kritik muss immer darin bestehen, einen im Raum stehenden Vorschlag genau zu analysieren und seine Wirkung aufzuzeigen. Im Fall des Kirchhof-Modells hat dies dankenswerterweise Jens Berger für uns getan. Kaum überraschend ist, das im Ergebnis die sehr hohen Einkommen nicht nur in absoluten, sondern auch in relativen Größen am stärksten entlastet weren. In seinem Beitrag legt er auch dar, warum das Modell – bezogen nur auf die Einkommensteuer – nicht aufkommensneutral sein kann.
Wenn aber das Steueraufkommen aus der Einkommensteuer sinkt und das Kirchhof-Modell in seiner Gesamtheit, wie versprochen, aufkommensneutral sein soll, muss das Aufkommen aus anderen Steuern entsprechend steigen. Die Bedeutung der Einkommensteuer würde gegenüber anderen Steuern, also z.B. den Verbrauchssteuern und der Mehrwertsteuer, sinken. Diesen Trend gibt es, wohl auch angeheizt durch den EU-weiten Unterbietungswettbewerb bei Ertragssteuern, schon seit vielen Jahren: die Einkommensteuer wurde unter rot-grün gesenkt, Mehrwertsteuer und Verbrauchssteuern unter verschiedenen Regierungen sukzessive erhöht. Hinsichtlich der Funktion des Steuersystems als sozialpolitisches Korrektiv hat diese Verschiebung eine regressive Wirkung.
Die sozialpolitische Korrektur-Funktion der Steuerprogression wird durch die von Paul Kirchhof vorgeschlagene Tarifstruktur – im Wesentlichen eine Flat Tax von 25 Prozent ab 20.001 Euro, aufgehübscht durch einen Freibetrag (10.000 Euro) und zwei Stufen von 15 Prozent (10.001 bis 15.000 Euro) und 20 Prozent (15.001 bis 20.000 Euro) – vollends aufgegeben. Der Spitzensteuersatz würde ab 20.001 Euro greifen. Das ließe für die langfristige Entwicklung der Einkommensbesteuerung nichts Gutes erwarten. Wie Erhard Eppler in einem lesenswerten Beitrag für die Süddeutsche Zeitung schreibt, kann man eine solche Flat Tax niemals erhöhen, sondern nur senken, weil ein Verweis auf die geringsten vom Spitzensteuersatz betroffenen Einkommen jede Erhöhung als unzumutbar erscheinen ließe. Auf Dauer wird damit die Sozialstaatlichkeit von zwei Seiten beschnitten: unmittelbar durch die Eliminierung der Steuerprogression auf der Seite der Steuereinnahmen, mittelbar durch die absehbare Kürzung steuerfinanzierter Sozial-Budgets auf der Seite der staatlichen Ausgaben.
Die Ermittlung des zu versteuernden Einkommens ist das mit Abstand komplizierteste Teilgebiet im Steuer-Dschungel. Hier geht es um die Abzugsfähigkeit von Werbungskosten, Sonderausgaben und außergewöhnlichen Belastungen, um umfangreiche Dokumentationspflichten, um Abschreibungsmöglichkeiten, um die Verrechnung von Verlustvorträgen und vieles mehr. Das ist etwas für Experten, weshalb ich mich dazu nicht groß auslassen möchte. Nur soviel: es ist gut möglich, dass der Staat mit seinem Anspruch, die Lebenswirklichkeit der Einkommenserzielung abzubilden und dem Einzelfall möglichst gerecht zu werden, gescheitert ist; dass die von den Steuerpflichtigen empfundene Steuergerechtigkeit durch die Komplexität gesunken ist, weil nicht mehr der begünstigt wird, der z.B. wirklich außergewöhnliche Belastungen hat, sondern der, der sich im Dschungel der Rechtsvorschriften am besten zurecht findet und die Regeln in einer kreativen Weise anzuwenden weiß, die ihrem Sinn zuwider läuft. Dennoch sollte man skeptisch sein bei Vorschlägen, die die Quadratur des Kreises erreicht haben wollen: vollkommene Gerechtigkeit bei maximaler Einfachheit. Zwischen diesen Zielen besteht normalerweise ein Konflikt.

Das Nein konkretisieren
Nichts gegen eine Steuerreform, wenn dadurch Steuerschlupflöcher geschlossen, sachlich nicht begründbare Privilegien gestrichen, das System verständlicher, die den Steuerbehörden entstehenden Erhebungskosten und die den Steuerpflichtigen entstehenden Befolgungskosten gesenkt werden. Ein paar Randbedingungen sollten aber erfüllt sein. Dazu gehören in meinen Augen mindestens:
  • Die Steuerquote (bezogen auf das BIP) darf nicht sinken.
  • Der Anteil der Einkommensteuer am gesamten Steueraufkommen darf nicht sinken.
  • Die korrigierende Wirkung der Einkommensteuer hinsichtlich der Einkommensverteilung muss erhalten bleiben.
Der letzte Punkt ist sicher schwer zu operationalisieren. Man könnte es z.B. so versuchen: der Quotient aus dem Gini-Koeffizienten der Netto-Einkommen und dem der Brutto-Einkommen darf sich nicht erhöhen. Zusätzlich könnte man fordern, dass die Vollzugskosten des Steuersystems und die Zusatzlast der Besteuerung ("excess burden") nicht steigen sollten.
Damit soll nun die Diskussion eröffnet sein. Welche Anforderungen sind noch an eine Steuerreform zu stellen? Was, wenn das Kirchhof-Modell von der Politik aufgegriffen wird? Sollte man es vielleicht mit realistischen Steuersätzen (etwa einem linear-progressiven Tarif mit einem Spitzensteuersatz von, sagen wir, 49 Prozent) kombinieren und ansonsten begrüßen?

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