Zu Pfingsten war das große Fest angesagt, und bald zogen auf allen Wegen die edlen Herren heran, die von König Gunther geladen waren. Gernot und Giselher hießen die Gäste in Worms willkommen. Zweiunddreißig Fürsten fanden sich ein und an fünftausend Ritter mit ihrem Geleit. Geschäftiges und frohes Treiben herrschte in der ganzen Stadt, und die Frauen richteten das Beste, was sie an Kleidern und Schmuck hatten.
Am Pfingstmorgen begann das Fest. Gunther befragte seine Getreuen, wie man sich den besonderen Dank der Gäste verdienen könne. Da meinte Ortwin von Metz: "Soll das Fest recht gelingen, so lasst die Frauen des Hofes daran teilnehmen, vor allem aber Eure Schwester Kriemhild, die so mancher Held zu sehen gekommen ist." Der Rat gefiel Gunther, und es erging an Frau Ute und Kriemhild die Aufforderung, mit ihren Frauen vor den Gästen zu erscheinen.
Da gab es kein Säumen. Die schönsten Gewänder und der kostbarste Schmuck wurden hervorgeholt, und hundert Recken standen zum Geleit bereit, als Ute und Kriemhild mit der Schar edler Frauen ihre Gemächer verließen. Sogleich drängten von allen Seiten die Ritter heran, denn niemand wollte sich diesen Augenblick entgehen lassen.
Wie das Morgenrot aus trüben Wolken bricht, so kam Kriemhild daher. Edle Steine funkelten an ihrem Gewand, und wie Rosen blühten ihre Wangen. Keine der Frauen kam ihr an Schönheit gleich, und keiner der Ritter hatte je ein lieblicheres Bild gesehen. Siegfried, der in der Menge der Zuschauer stand, wurde es im Herzen froh und traurig zugleich. "Wie konnte ich nur hoffen, dich zu gewinnen", ging es ihm durch den Sinn, "das ist ein eitler Wahn! Aber wenn ich dich meiden soll, so wollte ich doch lieber tot sein." Als wäre er auf ein Pergament gemalt, so stand Siegfried da, herrlich vor allen anderen Recken.
Da wandte sich Gernot an seinen Bruder Gunther: "Jetzt ist es an der Zeit, Siegfried zu belohnen für die Dienste, die er uns erwiesen hat. Kriemhild sollte ihm ihren Gruß entbieten, das würde den Helden ehren und noch fester mit uns verbinden." Gunther tat nach Gernots Rat, und Siegfried wurde zu der Königstochter geleitet. Noch tiefer erglühte das Rot auf Kriemhilds Wangen, als sie den Helden vor sich sah. "Willkommen, Herr Siegfried, edler Ritter!" grüßte sie ihn, und voll Anmut neigte er sich vor ihr in Freude und Dank. Nur heimlich wagten sie es, einander mit liebenden Blicken anzuschauen, und nie erlebte Siegfried ein tieferes Glück als in dieser Stunde, da er Kriemhilds Hand in der seinen hielt. Jeder der hochgemuten Recken hätte an seiner Stelle sein mögen.
Zum Münster ging nun der festliche Zug, Siegfried an der Seite der schönen Kriemhild. Dort wurden sie voneinander getrennt, wie es in der Kirche Sitte war, und der Held von Niederland konnte kaum das Ende der Messe erwarten, so sehr verlangte ihn nach der Nähe der Holdseligen, die er im Herzen trug. Als die Ritter und Frauen das Münster verließen, trat er wieder zu Kriemhild, um sie heim zu geleiten, und jetzt erst fand sie Worte des Dankes für sein tapferes Streiten. "Ich tat es für Eure Brüder und für Euch", erwiderte Siegfried, "und ich will nicht ablassen, Euch zu dienen mein Leben lang, wenn Ihr mir Eure Minne gewährt."
Zwölf Tage währte das Fest, und jeden Tag weilte Siegfried an der Seite Kriemhilds bei den Kampfspielen, in denen Gunthers Recken und die fremden Helden miteinander wetteiferten im Schwertstreit und Lanzenstechen. König Gunther kargte nicht mit Speise und Trank, und als die Gäste Abschied nahmen, ließ er ihnen kostbare Gaben reichen. Auch die gefangenen Sachsen und Dänen durften mit ihren Königen den Heimweg antreten. Gunther entließ sie auf Siegfrieds Rat ohne Lösegeld, doch mussten sie für künftige Zeiten Frieden geloben.
Abermals drängte es nun Siegfried zur Heimkehr, denn unerreichbar schien ihm immer noch Kriemhilds Hand. Da war es Giselher, der ihn mit seinen Bitten am Burgundenhof zurückzuhalten suchte. Und wieder ließ Siegfried sich nicht lange bitten. Wie hätte er wegreiten können von Kriemhild, die er nun Tag für Tag sehen durfte!