In der Morgenfrühe, es war noch dunkel, riefen die Glocken des Münsters. Kriemhild erhob sich, um mit ihren Frauen wie üblich zur Mette zu gehen. Ein Kämmerer, der Licht brachte, fand den Toten vor der Tür der Kemenate und meldete seiner Herrin: "Vor dem Gemach liegt in seinem Blut ein erschlagener Ritter."
Da sank Kriemhild in schlimmer Ahnung ohnmächtig zu Boden, und als sie wieder zu sich kam, schrie sie in ihrem Schmerz so laut, dass es weithin durch den Palast hallte. Tröstend sprachen ihr die Frauen zu: "Vielleicht ist es ein Fremder, der da draußen liegt." Aber Kriemhild klagte in tiefstem Leid: "Nein, Siegfried ist es, mein geliebter Mann! Brunhild hat es geraten, und Hagen hat es getan."
Sie ließ sich zu dem Toten führen, hob sein schönes Haupt mit ihrer weißen Hand und rief in verzweifeltem Jammer aus: "Weh mir Unglücklichen! Unversehrt ist sein Schild, Meuchelmord hat ihn gefällt! Rächen will ich diese schwarze Tat!"
Sogleich sandte sie Nachricht zu Siegmund und den Getreuen ihres Mannes. Niemand wollte die unheilvolle Kunde glauben, bis sie das Weinen vernahmen. Da eilte König Siegmund mit seinen Recken herbei, und laute Klagerufe erfüllten die Gänge und Säle des Palastes. "Weh der unseligen Reise, die meinem lieben Sohn den Tod brachte!" rief der alte König in untröstlichem Schmerz und umarmte die weinende Kriemhild.
Da erhoben die Recken aus Niederland, elfhundert waren es, ihre Schilde und begehrten, den Tod ihres Herrn an Gunther und seinen Gefährten zu rächen. Kriemhild jedoch hielt sie zurück: "Es wäre euer Verderben, zu zahlreich sind die Mannen Gunthers: einer von euch steht gegen dreißig Burgunden. Helft mir jetzt, meinen lieben Mann aufzubahren, und wartet mit mir auf die Stunde der Rache!"
Als es heller Tag war, trugen die Recken ihren toten Herrn auf einer Bahre unter Glockengeläut hinüber ins Münster. Alles Volk strömte aus der Stadt zusammen und trauerte um den lichten Helden, dessen Leben so jäh und gewaltsam geendet hatte. Auch Gunther kam mit Hagen und anderen Gefolgsleuten. Er trat zu Kriemhild und heuchelte Beileid: "Liebe Schwester, dein Leid geht mir zu Herzen. Wir alle müssen klagen um Siegfrieds Tod." Kriemhild erwiderte: "Ginge dir meines Mannes Tod wirklich nahe, so wäre es nicht zu der ruchlosen Tat gekommen."
Gunther und seine Begleiter leugneten ihre Schuld, aber Kriemhild rief: "Wer unschuldig sein will, der mag es erweisen! Er trete hier an die Bahre des Toten heran!"
So geschah es, dass, als Hagen finsteren Blickes herantrat, die Wunden Siegfrieds wieder aufbrachen, und das Blut von neuem strömte. Da war es vor allem Volk erwiesen, dass der Tronjer der Mörder war.
Viele Totenmessen wurden für Siegfried gehalten, und kunstreiche Schmiede fertigten einen Sarg aus Gold und Silber und mit starken Stahlbeschlägen. In diesem Sarg lag Siegfried drei Tage und drei Nächte im Münster aufgebahrt, und Kriemhild hielt im die Totenwacht. Auch die Getreuen, Männer und Frauen, wachten all diese Zeit ohne Unterlass bei ihrem lieben Herrn.
Am vierten Tag trug man ihn zu Grabe. Kriemhild schritt hinter dem Sarg, während die Glocken dumpf erschallten und die Priester die Totengesänge sangen. An der offenen Gruft bat Kriemhild die Mannen Siegfrieds, den Sarg noch einmal zu öffnen. Mit ihrer bleichen Hand hob sie das Haupt des geliebten Toten und küsste zum letztenmal seine Lippen. Dann brach sie unter der Last des Schmerzes zusammen.
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