Mit Unmut sah die stolze Brunhild, dass Siegfried und Kriemhild sich so viele Jahre dem Hof zu Worms fernhielten. Eines Tages sprach sie zu König Gunther: "Siegfried ist doch dein Lehnsmann, aber zehn Jahre lang blieb er dir seine Dienste schuldig. Nun ist es wohl Zeit, dass du ihn und Kriemhild aufforderst, an deinem Hof zu erscheinen." Gunther vernahm diese Worte nicht gern, er antwortete: "Sie wohnen uns zu fern. Wie könnte ich ihnen die lange Reise zumuten?" Doch Brunhild ließ nicht nach mit ihrem Drängen: "Wäre ein Lehnsmann noch so mächtig, und wohnte er noch ferner als Siegfried, was sein Herr ihm gebietet, das muss er tun. Und wie glücklich wäre ich", fügte sie hinzu, "wenn ich wieder einmal mit Kriemhild, deiner schönen Schwester, zusammen sein könnte wie damals bei unserer Hochzeit. Keinen größeren Wunsch habe ich." So lange bat sie, bis Gunther einwilligte und versprach: "Ich will ihnen Boten senden und sie zur Sonnwendfeier nach Worms laden."So geschah es bald. An der Spitze von dreißig Rittern übernahm Markgraf Gere den Botendienst. Er wurde mit seinen Begleitern von Siegfried und Kriemhild aufs beste aufgenommen und richtete die Botschaft aus, die König Gunther ihm aufgetragen hatte. Auch von Brunhild und Frau Ute, von Gernot und Giselher überbrachte er Grüße und freundliche Einladung zum Sonnwendfest in Worms. Wie hätten Siegfried und Kriemhild da ablehnen können! Selbst König Siegmund erbot sich, mit hundert Mannen die Reise ins Burgundenland mitzumachen. Mit reichen Gaben bedacht, wurden die Boten in die Heimat entlassen. Sie eilten sehr, die gute Nachricht nach Worms zu bringen. Gunther sprang vor Freude auf, als er die Kunde vernahm, und Brunhild ließ sich von dem Markgrafen berichten, dass Kriemhild noch so schön sei wie zuvor. Voll Stolz wiesen die Boten auch die kostbaren Geschenke vor, die sie in Xanten erhalten hatten. Hagen aber meinte: "Siegfried mag wohl leicht mit vollen Händen geben, seit er der Herr des Nibelungenhortes ist."Nun ging es in Worms an ein emsiges Schaffen und Rüsten. Kämmerer, Schenken und Küchenmeister waren tagaus, tagein geschäftig in Gaststuben, in Keller und Küche, um das Fest würdig zu richten, und die Frauen boten ihre ganze Kunst auf, die Kleider, die man beim Hofgelage tragen wollte, mit Goldborten und edlen Steinen zu schmücken.In prächtigem Zug nahten bald die Gäste von Niederland. Tausend Ritter hatte Siegfried aufgeboten, hundert ritten mit Siegmund, ihrem alten König. Saumtiere trugen schwere Lasten voll der mannigfaltigsten Kostbarkeiten. Ihren kleinen Sohn hatten Siegfried und Kriemhild in der Heimat zurückgelassen. -- Er sollte seine Eltern nicht mehr wiedersehen. Zum Empfang ritten Gunther und Brunhild mit stattlichem Gefolge vor die Stadt. Gunther bot Siegfried und Siegmund freundliches Willkommen, und die beiden Königinnen begrüßten sich so liebevoll, dass freudiger Beifall sich ringsum erhob. Auch die Frauen der Königinnen bezeigten einander ihre Zuneigung mit zierlicher Verneigung und anmutigem Kuss. Unverweilt ging es nun durch die Stadt zur Königsburg, wo der große Saal für die Gäste festlich gerichtet war. An langen Tafeln nahmen sie Platz, die Könige und Königinnen mit ihrem ganzen Gefolge, zwölfhundert Ritter und Frauen allein aus Niederland. König Gunther war ihnen ein guter und sorglicher Wirt, und auch Brunhild sah mit freundlicher Huld auf die stattliche Schar der Gäste. Am häufigsten weilte ihr Blick auf Kriemhild, deren Schönheit den lichten Glanz des Goldes übertraf. Der nächste Tag begann mit der Frühmesse im Münster, und dann riefen die Posaunen und Trompeten zum ritterlichen Kampfspiel draußen vor der Stadt. Wieder zerspellten die Lanzen und brachen die Schilde, und kampffroh tummelten die Recken ihre Rosse vor den Augen der Frauen, die voll Lust dem hin und her wogenden Turnier zuschauten. Auch Gunther und seine Freunde ritten zur Ehre der Gäste in die Schranken. Elf Tage gingen so hin mit froher Kurzweil, mit Reiten und Lanzenstechen und in festlicher Tafelrunde. Dann kam der Tag, da Brunhild ihren Groll und Unmut nicht länger zu zügeln vermochte.