“Newtopia” auf Sat.1: Die neoliberale Normalität ist der Skandal


„…Das Problem solcher Sendungen: Das allermeiste von dem, was sie zeigen, ist schlicht gähnend langweilig. Es ist für das Publikum einfach nicht spannend, den Menschen beim Herumdösen, beim Bejammern ihrer immer gleichen Probleme, beim Essen oder beim Erzählen der immer gleichen schlechten Witze zuzusehen. Die Sender greifen deshalb auf verschiedenste Mittel zurück, um dem Ganzen Pepp zu geben: Sie erteilen Handlungsanweisungen von außen, wie dies nun jüngst bei “Newtopia” bekannt wurde. Sie schüren Konflikte zwischen den beteiligten Kandidaten. Sie wählen als Kandidaten eine gewisse Anzahl “schräger Typen” aus. Sie schaffen künstliche Konkurrenzen und Knappheiten (etwa bei Big Brother: “Challenges und Matches”). Sie setzen gezielt Persönlichkeiten (wie Dieter Bohlen) ein, die für deftige Beleidigungen immer gut sind. Sie quälen die Kandidaten körperlich und psychisch (und tarnen dies oft als “Lernprozess”). Sie provozieren sexuelle Gespräche oder – besser – Handlungen. Sie stellen Kandidaten aufgrund tatsächlicher oder angeblicher Defizite bloß. Und: Die Geschichte solcher Sendungen ist immer auch die Geschichte von Regeländerungen, durch die die genannten Mechanismen ausgeweitet und beständig angepasst werden.

“Jeder Einzelne muss daher bis zum Ende sein Bestes geben, um sich seinen Platz zu sichern.”

“Sein Bestes geben” kann dabei vieles bedeuten: Die Gunst der Zuschauer erhält ein Kandidat möglicherweise durch gute Witze oder gruppenfreundliches Verhalten, vielleicht aber auch durch Provokationen und heiße Sex-Szenen. Die Gunst einer ausreichenden Zahl seiner “Mit-Pioniere” erhält man möglicherweise durch Initiative und aktives Handeln, vielleicht aber auch durch Opportunismus und Intrigen. Wie auch immer: Die “Pioniere” sind gezwungen, Strategien zu entwickeln, um sich von anderen zu unterscheiden und sich gegen andere durchzusetzen.

Von den Kandidaten wird damit letztlich der für neoliberale Gesellschaften typische Dreischritt “angemessenen” individuellen Verhaltens erwartet: Sie sollen sich erstens permanent selbst thematisieren, also ihre eigene Situation, die eigenen Stärken und Schwächen sowie die an sie gerichteten Anforderungen durchdenken. Sie sollen sich zweitens permanent selbst optimieren, also dieser Situation und diesen Anforderungen bestmöglich gerecht werden, die eigenen Schwächen ausmerzen und Stärken ausbauen. Und sie sollen sich drittens schließlich permanent selbst darstellen, also dafür sorgen, dass andere (Kandidaten und Zuschauer) von alldem auch etwas mitbekommen.

Die Kandidaten leben und zeigen diesen Dreischritt nicht nur in der Sendung, sondern ihnen ist auch schon vor Drehbeginn klar, was von ihnen erwartet wird. Auch aus dieser Perspektive ist “Newtopia” also schlicht eine Fortsetzung oder Kopie des Lebens in einer neoliberalen Gesellschaft. Dies zeigt sich etwa an den Steckbriefen, die Sat.1 zu jedem einzelnen “Pionier” auf der Homepage zur Sendung veröffentlicht.

Sendungen wie “Newtopia” führen dem Publikum neoliberale Denkmuster und Verhaltensweisen als normal und angemessen vor. Es sind Denkmuster und Verhaltensweisen, die im Zeitalter des Neoliberalismus von jedem und jeder erwartet werden: Bewähre dich, thematisiere dich, optimiere dich und zeige dies den anderen. Sei von dir überzeugt, diszipliniere dich, nimm die Herausforderungen des Marktes an. Das menschliche Leben wird im Neoliberalismus genauso wie in “Newtopia” zu einer Abfolge von Handlungen, die dem Erhalt und der Verbesserung des eigenen sozialen Status dienen sollen. Die menschliche Biografie wird zu einer Art unternehmerischem Projekt. Und wer bei alldem versagt, gilt als selbst schuld – hätte er sich doch einfach intensiver thematisieren, radikaler optimieren und besser darstellen sollen.
“Newtopia” bildet damit eine Art Mikrokosmos neoliberaler Gesellschaften. Die “Pioniere” können nicht anders als genau so handeln wie oben beschrieben. Damit trifft einmal mehr nicht zu, was Sat.1 behauptet: Weder zeigt “Newtopia” zu irgendeinem Zeitpunkt eine Gesellschaft ohne Regeln, noch sind die Kandidaten in ihrem Handeln frei und unabhängig. Auch können sie in ihrem Miteinander keine eigenständige Moral entwickeln. Selbst, wenn es tatsächlich kein Eingreifen durch die Produktionsfirma gäbe, wären die “Pioniere” nicht autonom.

Dass die Kandidaten ihren Lebensunterhalt sichern müssen, indem sie Waren oder Dienstleistungen produzieren und am kapitalistischen Markt verkaufen, vervollständigt dieses Bild. Sie führen damit nicht nur ein unternehmerisches Leben, sondern sind faktisch selbst Unternehmer. Diese Einbindung in die herrschenden wirtschaftlichen Verhältnisse zeigt einmal mehr, dass “Newtopia” mit einer Robinsonade rein gar nichts zu tun hat. Erzählt wird stattdessen einmal mehr das altbekannte Märchen vom Erfolg, der jenen winke, die ihn wirklich wollen – und das Märchen vom Aufstieg aus dem Nichts, das der eigenen Anstrengung zu verdanken sei…“

Quelle und gesamter Text: http://www.nachdenkseiten.de/?p=25771


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