Konkret 12/2014
Zusammenbruchstendenzen: Ist der Islamische Staat ein Prototyp postkapitalistischer Barbarei? Von Tomasz Konicz
Bereits seit mehr als fünf Wochen halten die Volksverteidigungseinheiten (YPG/YPJ) in der kurdischen Stadt Kobane, die nach wie vor zum Opfer einer beispiellosen geopolitischen Kungelei zu werden droht, den Angriffen der Kopfabschneider des Islamischen Staats (IS) stand. Die von Washington wieder einmal geschmiedete „Koalition der Willigen“ bringt einige ekelerregende Absurditäten hervor. Es ist eine Antiterrorallianz, in der mit der Türkei und den arabischen Golfdespotien die wichtigsten Terrorförderer der Region zu finden sind. Dies ist an der Blockade jeder effektiven militärischen Hilfe für Kobane seitens der Türkei offensichtlich geworden, die zu allerlei Verwerfungen zwischen Washington und Ankara führte.
Der aktuelle Zerfall von Staaten im arabischen Raum und das Aufkommen des länderübergreifenden Terrorregimes des IS, das an sich schon auf eine Ära postkapitalistischer Barbarei hindeutet, machen den anhaltenden hegemonialen Abstieg der USA deutlich. Der neudeutsche Antiamerikanismus blamiert sich hier an der Krisenrealität, in der Washington alles Erdenkliche unternimmt, um bloß keine Bodentruppen einsetzen zu müssen, und in der es über keinerlei Mittel mehr zu verfügen scheint, um der grenzüberschreitenden Anomie noch etwas entgegenzusetzen. Die USA, die sich zur effektiveren Verfolgung ihrer Interessen doch eigentlich auf Südostasien und die Eindämmung des chinesischen Einflusses konzentrieren wollten (siehe konkret 8/14), wurden von der Expansion des IS auf dem falschen Fuß erwischt. Der aus der Krise resultierende Staatszerfall nötigt Washington nun förmlich, entgegen den eigenen strategischen Planungen sich erneut in einer ökonomischen und politischen Zusammenbruchsregion, die die US-Army erst vor wenigen Jahren nach einer desaströsen Invasion verlassen hat, militärisch zu engagieren. Die als allmächtig phantasierte Weltmacht ist angesichts dieser globalen Konstellation eher getrieben als souverän.
Die heftigen Auseinandersetzungen zwischen Ankara und Washington während der Belagerung Kobanes durch den IS deuten bereits die Konsequenzen einer weiteren Erosion der Hegemonialposition der USA in einem in Auflösung befindlichen kapitalistischen Weltsystem an. Lauter kleine Möchtegern-USAs gehen daran, unter Einsatz brutaler Methoden ihre bornierten nationalen Interessen in Eigenregie durchzusetzen. Ein Paradebeispiel hierfür ist der größenwahnsinnige Egomane Erdogan, der sein neo-osmanisches Projekt auf den Leichenbergen in den „Rojava“ genannten syrischen Kurdengebieten errichten will. Zudem gilt: Je schwächer der Staat, je weiter der Staatszerfall in einer Region voranschreitet, desto ausgeprägter die Tendenz, staatliche Interessen unter Zuhilfenahme von Milizen, Rackets und sonstigen Banden durchzusetzen. Dieses Kalkül ist dem IS vollkommen klar. Al Baghdadi weiß genau, dass die Türkei den IS nicht angreifen wird, solange er die Selbstverwaltung der Kurden Syriens zu vernichten trachtet. Die allseits beliebte Instrumentalisierung des IS bildet hier die Vorstufe der Akzeptanz des islamischen Klerikalfaschismus als Machtfaktor.
Doch es ist nicht in erster Linie der widerwärtige globale Machtpoker, der den kometenhaften Aufstieg des Jihadismus und des IS in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten erklärt. Die geopolitischen Akteure bemühen sich zwar, den militanten Islamismus zu instrumentalisieren, doch dies erklärt nicht dessen Genese. Der Jihadismus ist vielmehr ein spezifisches Krisenprodukt, und sowohl sein Aufkommen als auch seine wuchernde Expansion stehen mit der Krise des kapitalistischen Weltsystems, die sich in einem dekadenlangen Prozess schubweise von der Peripherie bis in die Zentren hineinfrisst, in ursächlicher Verbindung. Der durch fortschreitende Produktivitätssprünge der kapitalistischen Warenproduktion ausgelöste Krisenprozess, bei dem das Kapital seine eigene Substanz – die wertbildende Arbeit – sukzessive verliert, hinterlässt eine ökonomisch buchstäblich „überflüssige“ Menschheit und zerfallende Staatsruinen in der Peripherie, denen mangels nennenswerter Kapitalverwertung das ökonomische Fundament weggebrochen ist beziehungsweise wegbricht(siehe konkret 11/13).
Letztlich fungiert der IS als ein global agierender und höchst effizient (konzernartig) organisierter Transformationsmotor, der eine immer größere Anzahl desillusionierter oder ökonomisch überflüssiger muslimischer Männer ansaugt, um sie buchstäblich in lebende Bomben zu verwandeln, mit denen die morschen Attrappen staatlicher Ordnung in der Region offensichtlich mühelos gesprengt werden können. Der Jihadismus – wie der Neofaschismus – exekutiert den objektiven, hinter dem Rücken der ökonomischen und politischen Akteure sich entfaltenden Krisenprozess und macht die dem Kapitalverhältnis implizit innewohnende Todes- und Vernichtungstendenz explizit. Die jihadistischen Rackets haben den Weltgeist im Rücken. Sie stürzen, was ohnehin im Fallen begriffen ist. Die plötzliche Expansion des IS im sozioökonomischen Zusammenbruchsgebiet des Zweistromlandes, die Mühelosigkeit, mit der korrupte und repressive Staatsattrappen in der Region zu Fall gebracht werden können, illustrieren nur die Konsequenz des Zusammenbruchs der kapitalistischen Modernisierung in dieser Peripherie, deren mürber und dysfunktionaler staatlicher Überbau – meist längst eine Beute örtlicher Rackets – nun hinweggefegt wird. Jeder der barbarischen Akte des IS erhält durch seine Überstimmung mit der objektiven Krisentendenz eine Schlagkraft, die alle Versuche des Containments durch die Militärmaschinerie der USA konterkariert.
Die Interventionspolitik der kapitalistischen Großmächte befindet sich in einem Windmühlenkampf gegen die Folgen der kapitalistischen Systemkrise – überall im arabischen Raum. Während die US-Air-Force mit ihrer Bombenkampagne den IS in Irak und Syrien zu schwächen versucht, versinkt der Jemen immer tiefer im Bürgerkrieg. Im Libanon flackern immer häufiger bürgerkriegsartige Auseinandersetzungen auf; zuletzt kam es Ende Oktober zu tagelangen Gefechten im nordlibanesischen Tripoli. Das ägyptische Militärregime, dessen Luftwaffe mehrmals die in Libyen mit dem IS sympathisierenden Milizen bombardierte, hat nach einem verheerenden Anschlag den Ausnahmezustand im Sinai verhängt und die Truppen an der libyschen Grenze in Alarmbereitschaft versetzt. Die Jihadisten in Libyen stünden kurz davor, die Ölquellen des Landes zu erobern, warnten ägyptische Militärsprecher Ende Oktober. Die mörderische islamistische Sekte Boko Haram, die laut „Neewsweek“ in Nordnigeria ein „Territorium von der Größe Irlands“ kontrolliert, folgte jüngst dem IS und rief ein westafrikanisches Kalifat aus. Im Gegensatz zum global agierenden Al-Qaida-Netzwerk ist diese neue Generation von Jihadisten bemüht, in den Zusammenbruchsgebieten des Weltmarkts Territorien zu erobern und zu halten, um das Wahngebilde eines weltumspannenden Kalifats zu verwirklichen.
Jeder Versuch, diese anomischen Zusammenbruchsregionen wieder in die gewohnte Form staatlicher Herrschaft zu pressen (nation building), bleibt für die Interventionsmächte erfolglos. Ein wachsendes, bereits heute millionenstarkes Heer überflüssiger junger Männer und die allgemein verhassten, zu repressiven Bereicherungsmaschinen herrschender Clans verkommenden Staatsapparate – die ihrer Funktion als „ideeller Gesamtkapitalist“ (Marx) allein schon deshalb nicht nachkommen können, weil auf ihrem Territorium kaum noch nennenswerte Kapitalakkumulation stattfindet – bilden den Resonanzboden, der die Schockwellen des Staatszerfalls samt anschließendem molekularen Bürgerkrieg (H.M. Enzensberger) über die gesamte Region hinweg verbreitet. Selbst wenn der IS in den nächsten Jahren von der internationalen „Antiterrorallianz“ tatsächlich zerschlagen werden sollte, werden andere jihadistische Kräfte an seine Stelle treten – hervorgegangen etwa aus der längst von Islamisten dominierten Freien Syrischen Armee (FSA). Doch selbst der Sieg gegen den IS ist nicht sicher: Sollte die gigantische Liquiditätsblase, die das spätkapitalistische Weltsystem auf Pump am Laufen hält, vor dem Sieg gegen den IS platzen, dürfte dem jüngsten Weltordnungskrieg des Westens schlicht die monetäre Basis abhanden kommen.
Die Ideologie und Praxis des IS kann als ein genozidaler Klerikalfaschismus bezeichnet werden, als eine offen terroristische Krisenform kapitalistischer Herrschaft, die sich analog zum nationalistisch und/oder rassistisch grundierten europäischen Faschismus und Neonazismus ausbildet. Die krisenbedingte Konstitution von europäischem Neonazismus und islamischem Jihadismus verläuft in ähnlichen ideologischen Bahnen: die Erschütterung der gewohnten Ordnung, der krisenbedingte Verlust jeden ökonomischen/sozialen/psychologischen Halts führt zur Rückbesinnung auf die eigene Identität und auf die als idyllisch imaginierten Ursprünge der eigenen Kultur und Gesellschaft (Kalifat, Germanentum), die als Ankerpunkte in einer aus den Fugen geratenen Welt imaginiert werden – obwohl die Identität ja selber nur ein Ausfluss der Sozialisierung in einer krisengeschüttelten Gesellschaft ist. Während im Westen die nationale Identität als ein Nährboden dient, aus dem faschistische Ideologien erwachsen, übernimmt im arabischen Kulturkreis die Religion diese Funktion. Während in Europa rassistische und nationalistische Phantasien die Vernichtungswut befeuern, markiert im klerikalfaschistischen Jihadismus die Kategorie des „Ungläubigen“ das „unwerte“ Leben.
Sowohl der Islamismus als auch der europäische Rechtsradikalismus stellen somit eine Art Extremismus der Mitte dar, der die in der Gesellschaft dominierenden Vorstellungen und Anschauungen auf einen ideologischen Höhepunkt treibt. Im Fall des Islamismus ist es die Religion, die in der „Mitte“ der arabischen Gesellschaften eine hegemoniale Stellung einnimmt; beim Rechtsextremismus ist es die nationale Identität, die auf die Spitze getrieben wird. Beide Ideologien können zudem als „postmodern“ bezeichnet werden, da sie ein ideeller Ausfluss der Krise und des Scheiterns der kapitalistischen Moderne sind. Die Hinwendung zum Islamismus unter europäischen Muslimen entwickelt sich parallel zum krisenbedingt zunehmenden Rechtsextremismus in Europa. Es verwundert daher nicht, dass der IS das europaweit größte Kontingent an Kämpfern in Frankreich, dem krisengeplagten Land der Banlieues und des Front National, in dem das europaweit größte, sozial benachteiligte Kontingent an Muslimen lebt, rekrutieren konnte.
Diese gesamtgesellschaftlich einflussreichen identitären und ideologischen Vorstellungen dienen auch dazu, die sich verschärfende Krisenkonkurrenz gegen „die Anderen“ zu legitimieren (Ausländer, Sozialschmarotzer – oder eben Ungläubige). Der europaweit zunehmende Rassismus und Rechtsextremismus, der sich in den Wahlerfolgen der AfD, der britischen Ukip oder des französischen Front National manifestiert, zielt ja letztendlich auf den ökonomischen Ausschluss derjenigen Gruppen, die nicht als Teil der Leistungs- oder „Volksgemeinschaft“ verstanden werden („Arbeitsplätze zuerst für Deutsche“). Der Rechtsextremismus, der den Ausschluss bestimmter Bevölkerungsgruppen propagiert, eben auch eine ideologische Waffe im zunehmenden Konkurrenzkampf. Das ist letztendlich die ideologische Leistung der europäischen wie islamistischen Rechten in der Krise: Sie liefern eine Rationalisierung des aufziehenden Weltbürgerkrieges.
Während also der deutsche Nazi unter der Parole „Arbeit zuerst für Deutsche“ Jagd auf Ausländer macht, verteilen Jihadisten in Mosul Wohnungen vertriebener „Ungläubiger“ an Sunniten, oder sie teilen die Beute aus ihren Raubzügen unter lokalen sunnitischen Clans auf (Autos, Wertgegenstände, Weizen, Frauen, Kinder). Wie sehr sich islamistische und faschistische Rackets gleichen, wurde etwa bei den „Hooligan-Ausschreitungen“ in Köln am 26. Oktober offensichtlich, die der deutschen Nazi-Szene als Agitations- und Mobilisierungsmittel dienten. Es sind gerade diese sich abzeichnenden kulturalistischen Frontverläufe zwischen zwei gleichermaßen irren Krisenideologien, die den Faschisierungs- und Barbarisierungsprozess in Europa künftig beschleunigen dürften.
Ideologie und Praxis des IS weisen bereits in Ansätzen über den Kapitalismus hinaus. Dieses Gebilde ist ein Transformationsphänomen, das mit einem Fuß bereits im barbarisch-postkapitalistischen Jenseits steht. Einerseits scheint der IS noch in den illegalen Nischen des Weltmarkts verankert – in Ölschmuggel, Antiquitätenhandel und einer Reihe mafiöser Tätigkeiten. Doch lassen sich hier Keimformen von Herrschafts- und Ausbeutungsformen finden, die jenseits des Kapitalprinzips liegen. Die Sklavenmärkte von Mosul, auf denen „erbeutete“ Frauen und Mädchen vom IS feilgeboten werden, deuten ebenso in diese Richtung, wie die neofeudal anmutenden Machtstrukturen: Lokale Clans oder Milizen haben dem Emir des IS Gefolgschaft zu schwören. Es liegt hierin die Tendenz, im Krisenfortgang – etwa bei einem Zusammenbruch des Weltmarkts – die dem Kapitalismus innewohnenden vermittelten und systemischen Gewaltverhältnisse – also den „stummen Zwang der Verhältnisse“ – durch direkte, unmittelbare, persönliche Gewaltverhältnisse zu ersetzen.
Das Jenseits, für das der Todeskult des IS steht, ist somit ganz diesseitig: die kommende Barbarei nach der sich abzeichnenden Auflösung des kapitalistischen Weltsystems. Der Jihadismus versucht nicht, an den überkommenen kapitalistischen Herrschafts- und Ausbeutungsformen festzuhalten, er geht in der um sich greifenden Anomie voll auf. Mitunter ahnen die Kopfabschneider bereits, was sie da eigentlich tun: Die alten Grenzen zwischen den staatlichen Modernisierungsruinen werden von ihnen bewusst eingerissen – in seiner Propaganda stellt sich der IS immer wieder als Alternative zum System der Nationalstaaten dar, das er zu überwinden trachtet.
Der Transformationsprozess, in den das kollabierende spätkapitalistische Weltsystem eingetreten ist, ist in seinem Verlauf aber nicht determiniert – er muss nicht zwangsläufig in Barbarei münden. Sobald linke oder allgemein progressive Kräfte die alten kapitalistischen Kategorien hinter sich lassen und diesem Umwälzungsprozess offensiv begegnen, können sie ein Gegengewicht zum Islamofaschismus des IS bilden. Die linke kurdische Unabhängigkeitsbewegung etwa hat den Staat als Kategorie der Emanzipation bereits hinter sich gelassen. Nach seiner Festnahme und der Inhaftierung auf der Gefängnisinsel Imrali verabschiedete sich der PKK-Vorsitzende Abdullah Öcalan von der marxistisch-leninistischen Doktrin des nationalen Befreiungskampfes, die auf die Errichtung eines eigenen kurdischen Staates abzielte. In Anlehnung an die Schriften des Öko-Anarchisten Murray Bookchin entwickelte er in den Jahren nach seiner Verurteilung das strategische Konzept des „Demokratischen Koföderalismus“, das den Aufbau einer staatenübergreifenden Rätegesellschaft, eines netzwerkartigen Gesellschaftssystems autonomer und selbstverwalteter Gemeinschaften anstrebt, das perspektivisch den gesamten Nahen- und Mittleren Osten basisdemokratisch transformieren soll. Dieses Konzept ist dabei nicht auf Kurdistan oder die Kurden beschränkt, sondern auf die Inklusion anderer Minderheiten oder Bevölkerungsgruppen angelegt.
In Staaten, die noch über ausreichende Machtmittel verfügen, ist diese libertäre Strategie – die letztendlich auf die Überwindung von Staaten und Hierarchien zielt – schnell an ihre Grenzen gestoßen, wie beispielsweise die brutale Repression gegen die als Keimzelle dieser nicht-staatlichen Gesellschaft agierende KCK (Koma Civakên Kurdistan, Union der Gemeinschaften Kurdistans) in der Türkei beweist. In Reaktion auf die Versuche der KCK, basisdemokratische Selbstverwaltungsstrukturen aufzubauen, ließ Ankara Tausende von Aktivisten inhaftieren. In den Rojava genannten syrischen Kurdengebieten, aus denen sich der zerfallende syrische Staat nach dem Ausbruch des offenen Bürgerkriegs nahezu kampflos zurückgezogen hat, konnte hingegen die syrische Schwesterpartei der PKK, die PYD (Partei der Demokratischen Union), eine erstaunlich gut funktionierende Selbstverwaltung aufbauen, die die Verwirklichung einiger für diese anomische Bürgerkriegsregion unerhörte Vorhaben – umfassende Minderheitenbeteiligung, Frauenquote, Gleichberechtigung, Räteverwaltung – tatsächlich in Angriff genommen hat (siehe das Interview mit Dilar Dirik in konkret 11/14).
Rojava ist eine Herausforderung nahezu aller bestehenden Staatsattrappen, Rackets, Regimes und Milizen in der Region, die sich der Sprengkraft dieses Projekts durchaus bewußt sind. Denn selbstverständlich würde dieses Modell – sollte es sich einigermaßen festigen können – auf die gesamte Region ausstrahlen. Der inklusive Charakter dieses emanzipatorischen Anlaufs ist geeignet, die erzreaktionären und patriarchalen Strukturen der Region aufzusprengen. Jede Frau im Nahen und Mittleren Osten, die nicht mehr wie ein Stück Vieh behandelt werden will, könnte zumindest versuchen, sich in die befreiten, selbstverwalteten Gebiete durchzuschlagen, um bewaffnet jedem islamistischen Frauenhasser notfalls die Eier wegschießen zu können. Was in Rojava begonnen wurde, wird in der Region sehr aufmerksam verfolgt. Bei einer afghanischen Solidaritätsdemonstration für Kobane, die Mitte Oktober in Kabul stattfand, trugen verschleierte Frauen Transparente und Plakate von bewaffneten YPJ-Kämpferinnen.
Nicht nur die Barbarei, auch die Emanzipation kann sich die Krisenkonstellation zu Nutze machen, wenn progressive Kräfte sich nicht mehr krampfhaft an die zerfallenden kapitalistischen Kategorien von Staat und Nation klammern, sondern im Krisenprozess adäquate Organisationsformen aufzubauen versuchen. Deswegen gibt es für die syrischen Kurden übrigens auch kaum Unterstützung von den lokalen Akteuren, wie etwa dem Barzani-Clan im ehemaligen Nordirak, der sich nur aufgrund wachsenden öffentlichen Drucks zu einer symbolischen Unterstützung Kobanes verstand – und der Rojava selbstverständlich als eine Bedrohung der eigenen Machtfülle wahrnimmt.
Die kurdische Befreiungsbewegung hat somit mehr geleistet als nahezu die gesamte deutsche Linke, die noch immer im Morast der zerfallenden kapitalistischen Kategorien feststeckt: Sie hat die staatlichen Zerfallsprozesse intuitiv antizipiert und eine praktikable Strategie entwickelt, um der aufkommenden jihadistischen Barbarei eine emanzipatorische Alternative entgegenstellen zu können. Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass in Rojava nun der Stein der Weisen gefunden wurde oder dass diese emanzipatorische Bewegung frei von Widersprüchen zur eigenen libertären Theorie wäre, die sie sich beispielsweise im allgegenwärtigen Kult um Öcalan oder in den die militärisch-zentralistischen Zwängen der Selbstverteidigung zeigen. Doch entscheidend ist nicht, was Rojava jetzt ist – dieser Aufbruch muss ja die Spuren all des Drecks aufweisen, dem er entkommen will. Entscheidend ist, was Rojava sein könnte. Es eröffnen sich hier Perspektiven, die im weiteren Krisenverlauf zu realisieren wären.
Deswegen kommt dem Kampf um Kobane nicht nur ein hoher symbolischer und – für den IS – propagandistischer Wert zu; dieser Kampf ist auch ein Wendepunkt, an dem sich der weitere Krisenverlauf und die Richtung des Transformationsprozesses im gesamten Nahen und Mittleren Osten entscheiden könnte. Befreiung ist in dieser Region nun zumindest denkbar, ohne dass dies einer weltfremden Spinnerei gleichkäme. In Rojava hat sich die Tür zur Emanzipation zumindest einen Spalt breit geöffnet; die Islamofaschisten des IS wollen sie in Kooperation mit der Türkei mit aller Macht wieder zuschlagen.
Was sich in der Zusammenbruchsregion des Zweistromlands entfaltet, ist ein mörderischer und von den lokalen Akteuren unwissentlich geführter Krieg um den Verlauf und das Ergebnis des krisenhaften globalen Transformationsprozesses, der in der Peripherie des kapitalistischen Weltsystems voll einsetzt. Es ist ein Kampf um die postkapitalistische Zukunft – falls es angesichts des Vernichtungspotentials, das der Spätkapitalismus akkumuliert hat, überhaupt noch eine geben sollte.