Neustart nach Guantánamo

Der blamable Umgang der deutschen Bundesregierung mit Murat Kurnaz und Khaled al-Masri ist bekannt; es hat jedoch durchaus System in Europa, Opfer der USA im Stich zu lassen und auch noch zu stigmatisieren. Etwa die “Algerian Six”, sechs Bosnier algerischer Herkunft, die 2002 von US-Truppen in Sarajevo festgenommen und nach Guantánamo überstellt wurden. Nach einem amerikanischen Höchstgerichtsurteil wurden sie 2008 freigelassen, fanden jedoch selbst in Bosnien nur mit Mühe Aufnahme.

Von Anfang an setzten sich die Österreicher Wolfgang Petritsch (früher internationaler Repräsentant in Bosnien) und Manfred Nowak (damals internationaler Richter in Bosnien) für die “Algerian Six” ein. Nun haben sie das Projekt “Einmal Guantánamo – immer Guantánamo?” über die zivilgesellschaftliche Crowdfunding-Plattform Respekt.net gestartet, das zwei der “Algerian Six”, Mustafa Ait Idir und Hadj Boudella, Basisfinanzierung für einen Copy-Shop zur Verfügung stellt.

Neustart nach Guantánamo
Die “Algerian Six”

Im Rahmen der Plattform Respekt.net haben 176 InvestorInnen 24.000 Euro zur Verfügung gestellt, damit Mustafa Ait Idir und Hadj Boudella einen Copy-Shop in Sarajevo betreiben können. Wolfgang Petritsch (heute Botschafter bei der OECD und früher Repräsentant der internationalen Staatengemeinschaft in Bosnien) unterstützt das Projekt, weil er sich sehr für die beiden einsetzt, die sieben Jahre in Guantánamo verbracht haben.

Keine Entschädigung, aber Stigmatisierung

Bei einer Pressekonferenz zu “Einmal Guantanamo – immer Guantanamo” kritisierte er den Umgang mit ihnen: “Man hat sie entlassen und quasi zur Verfügung gestellt – ohne dass es zu einer Entschädigung gekommen wäre oder dass man sich irgendeinmal entschuldigt hat.” Erst nach langem Bemühen war Bosnien bereit, seine Staatsbürger wieder aufzunehmen, denn zunächst weigerten sich alle Länder Europas. Dazu gehörte auch Österreich, was Petritsch auf die Barrikaden gehen lässt: “Eine unheilige Allianz von der damaligen Außenministerin bis zur damaligen Innenministerin bis hin zum heutigen Außenminister hat gesagt: Ist nicht möglich, nehmen wir nicht an. Eine unglaubliche Schweinerei und Gemeinheit, die damals passiert ist.”

Allerdings sollte gerade er als Diplomat wissen, dass Unterwerfung unter die Erwartungen der USA in österreichischer Politik (und in den Medien) die Regel und nicht die Ausnahme ist. Im Gegenteil, wer in Politik und Presse ausschert, Österreich als souverän betrachtet und die USA als Staat wie jeden anderen, der mit demselben Mass gemessen wird wie alle, ist Schikanen, Druck, Menschenrechtsverletzungen, (drohendem) Existenzverlust ausgesetzt. Wer unter anderem konsequent wegsieht, ist etwa der “heutige Außenminister” Michael Spindelegger, der sich seiner Eigenwerbung zufolge weltweit für Menschenrechte und Pressefreiheit einsetzt.

All jene, die dagegen etwas unternehmen müssten, von ihrer Verantwortung und Verpflichtung her, sehen tatenlos zu oder machen mit. Es ist daher kein Wunder, dass ÖVP-PolitikerInnen nicht im Traum daran denken, unschuldigen Opfern des fragwürdigen “Krieg gegen Terror” zu helfen, oder dass selbst Parteien wie die Grünen US-Interventionen in anderen Ländern bejubeln müssen. Auch die SPÖ vertritt keineswegs die Interessen des eigenen Landes, wie man am geduldeten Druck auf den US-kritischen Politiker Norbert Darabos oder auch an der früheren Performance ihres Mitgliedes Wolfgang Petritsch sieht, der zu den Wegbereitern des von USA/NATO gewollten Kosovokrieges gehörte.

Es ist jedoch fraglos zu begrüßen, dass Petritsch gemeinsam mit Manfred Nowak und dem Ludwig Boltzmann Institut für Menschenrechte zwei Ex-Häftlingen hilft. Sie “setzen dort an, wo sich bis heute die involvierten staatlichen Akteure ihrer Verantwortung entziehen”, heisst es in einer Presseaussendung. Mustafa Ait Idir und Hadj Boudella wurden im Frühjahr 2002 gemeinsam mit vier weiteren Bosniern algerischer Herkunft (“Algerian Six”, wie sie genannt wurden) von US-Truppen in Sarajevo verhaftet und nach Guantánamo überstellt. Dass zuvor ein bosnisches Gericht feststellte, dass keinerlei Gründe für eine Inhaftierung vorliegen, wurde ignoriert. Bereits damals taten Petritsch und Nowak (damals internationaler Richter an der bosnischen 
Menschenrechtskammer), was in ihrer Macht stand, konnten aber nicht verhindern, dass Mustafa Ait Idir und Hadj Boudella nach  Guantánamo  gebracht wurden.

Jahrelanger Kampf für die Freiheit der Algerian Six

Nowak bemühte sich als UN Sonderberichterstatter über Folter um Zugang zu Guantánamo und setzte sich für die Schließung des Lagers ein, Petritsch sprach vor einem Ausschuss des Europäischen Parlaments, der die Involvierung europäischer Staaten in illegale CIA-(Entführungs-) Flüge untersuchte. Er setzte sich auch vor einem US Bundesgericht für die sechs Bosnier algerischer Herkunft ein und kontaktierte Anwälte, die pro bono vor den Obersten Gerichtshof gehen und auch gewinnen. Im November 2008 wird die Inhaftierung von fünf der sechs Bosnier für unrechtmäßig befunden und die sofortige Freilassung angeordnet. Allerdings: sie wurden bisher nicht entschädigt und galten in Europa als Parias, obwohl ihnen grosses Unrecht angetan wurde.

In Sarajevo waren sie auch mit Vorurteilen und Misstrauen konfrontiert, trotz Qualifikation fanden Ait Idir und Boudella keine Arbeit. Deshalb initiierten Petritsch und Nowak 2011 das Projekt “Einmal Guantánamo – immer Guantánamo?”, um den beiden die finanzielle Basis für den Aufbau einer eigenen Existenz zu sichern. Dass dies gelang, weil 176 Menschen die Idee finanziell unterstützten, ist für Petritsch “ein gewaltiges
 Lebenszeichen der österreichischen Zivilgesellschaft” und für Nowak zeigt es, dass “das inoffizielle Österreich sehr viel mehr Courage
 hat als die offizielle österreichische Politik”. Respekt.net unterstützt sonst vielfältige Projekte in Österreich, hat aber mit dem Copy-Shop (der den Namen “Respekt” trägt) erstmals international agiert, was Präsident Martin Winkler “besonders spannend” findet.

Die “Supermacht”, die alles “darf”

Doppelte Standards, wann immer es um die USA geht, sind leider auch anderswo Usus, wie das Beispiel Grossbritannien zeigt: “George Galloway, britischer Politiker der ‘Respect The Unity Coalition Party’, welcher vor allem für die Freilassung des britischen Häftlings Shaker Aamer kämpft, kritisiert die doppelten Standards von Politik und Öffentlichkeit: ‘Wenn in Russland Menschen verschwinden würden und ohne Gerichtsverhandlungen festgehalten würden, ohne Zugang zu Anwälten, dann wären die westlichen Medien voll davon. Human Rights Watch und Amnesty International würden aufschreien’, so Galloway. Grundsätzlich sieht er auch bei der britischen Regierung einen mangelnden Willen, Druck auf die USA auszuüben, um Guantánamo Bay zu schließen sowie die Gefangenen in öffentlichen und fairen Gerichtsverhandlungen zu verurteilen oder diese freizulassen.”

Bezeichnend für die Art und Weise, wie in Österreich die Medien selbst “Pressefreiheit” verstehen, ist auch der Umgang mit Guantánamo. im Februar 2013 berichtete der “Kurier” über einen Besuch im Lager unter dem Titel “Keine Fenster und immer in Ketten”. Man stelle sich Worte wie diese vor, ginge es um ein Lager in Russland, China oder dem Iran – undenkbar, dass auch dann voll Verständnis für diejenigen berichtet würde, die meinten, Menschen ohne Prozess, ohne Rechte und unter Folter einsperren zu müssen:

“Fast 6000 Soldaten und Zivilisten leben und arbeiten auf dem riesigen Areal der amerikanischen Basis Guantanamo Bay auf der Insel Kuba. Doch nur die allerwenigsten haben Zutritt zum berühmt-berüchtigten Gefängnis, wie jetzt der KURIER, in dem früher bis zu 800 Taliban-Kämpfer und mutmaßliche Terroristen eingesperrt waren. Heute ist es nur noch knapp ein Fünftel davon, wer sich wohl verhält, darf ins ‘liberalere’ Camp 6. Dort dürfen die Gefangenen miteinander reden, essen, beten, selbst Fußball zu spielen steht ihnen frei. Bücher, Zeitungen und Zeitschriften dürfen ausgeliehen werden. Beliebteste Lektüre der streng gläubigen Insassen: Studien über den Koran, aber auch Harry Potter wird gern gelesen. Neueste Errungenschaft: Alle paar Monate dürfen die Gefangenen via Skype mit ihren Verwandten kommunizieren.”

Es hätte nur noch gefehlt, den Artikel nicht im Politik- sondern im Reiseteil unterzubringen. Doch es passt etwa dazu, wie gleichgültig letzten Sommer im ORF-Mittagjournal darüber berichtet wurde, dass die CIA Menschen zu Tode foltern “darf” – während zugleich nicht nur im Radio ungeheure Empörung über den Umgang eines russischen Gerichts mit der vom National Endowment for Democracy (i.e. US Außenministerium)unterstützten “Punkband” Pussy Riot ventiliert wurde. Man erinnere sich auch daran, dass Kommentatoren wie Hans Rauscher im “Standard” noch 2002 voll des Lobes für  Guantánamo waren oder wie zwiespältig über Wikileaks und Julian Assange, den Gründer der Plattform berichtet wird.


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