Neujahrstanne statt Weihnachtsbaum

Oder: Wie die Lust am Quälen die russische Welt verändert.

Stellen wir uns einmal vor, wir wären Zeitreisende und kämen in die Mitte des Jahres 1699 ins alte Russland. Der erste September – erfahren wir staunend – werde der Anfang des Jahres 7208 sein, weil die Starina (= “die ewige Ordnung”) als ersten Termin die Erschaffung der Welt bestimmt, und nicht die Geburt eines Messias.

Da kommt plötzlich ein Zar des Weges daher. Der – vor allem um den orthodoxen Klerus zu ärgern* – den “gottgewollten” Kalender der “ewigen Ordnung” einfach so reformiert.

Der 1. September 1699 wird von ihm befohlen, NICHT als Jahresbeginn zu feiern, sondern statt dessen den 1. Januar 1700**. Wie auch alle 1. Januare, die diesem folgen werden. Gleichwohl wird der julianische Kalender eingeführt, der – Treppenwitz der Geschichte – erzprotestantisch ist, weil man als Protestant einen Papst namens Gregor nicht sonderlich mag. Und der somit gegenüber dem “richtigen”, dem heute noch gültigen gregorianischen, Kalender 11 Tage “zurück” liegt.

Dem nicht genug! Um den russisch-orthodoxen Klerus weiter zu demütigen, führt jener Zar eine Durchführungsbestimmung zum anstehenden Jahreswechsel bei, die besagt, dass dem nun geltenden protestantischen Kalender heidnische Symbolik zugeordnet werde***, wonach Raketen in die Luft steigen sollen, Lagerfeuer gezündet werden und – nota bene – ausgerechnet die russische Hauptstadt mit allerlei Grünzeug geschmückt weden soll. Insbesondere die breiten Straßen, alle Plätze und an alle Toren sollen mit Tannengrün geschmückt werden. Tannen seien zu errichten und zu schmücken.

So erhielt Russland erstmals eine Neujahrstanne. Die sich logischerweise gegenüber dem westlichen Weihnachtsbaum nicht nur in Bezug auf den Anlass, sondern auch in Gestaltung unterscheidet. Während der deutsche Baum eine “Stille Nacht” symbolisiert, blunkert der russische Baum wie die Reeperbahn, nachts um halb eins.

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* Das Verhältnis zwischen Zar Peter dem I. (dem Großen) und orthodoxer Kirche war seit Thronbesteigung angespannt. Hinter den Strelizen standen die Intrigen der Kirche. In den Klöstern agierten verschwörerische Kräfte. Was logisch ist, weil jede menschliche Institution sich um Macht bemüht. Der Klerus Russlands stand seinerzeit geschlossen (Gläubige und Altgläubige) gegen die vielen Neuerungen des Zaren.

** Dekret vom 20. Dezember 1699 – von Peter dem I. (dem Großen)

*** “Reziprokes Canossa” fiel mir hierzu ein. Was ich mir aber – wie es oben nicht zu lesen ist – unterdrückt habe.


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