Neujahrsodyssee von und zu Berlin

Von Kleinstadtgedanken

Berlin

Alljährlich mühe ich mich in der Vorweihnachtszeit schon mit der Planung für den kommenden Jahreswechsel ab. Ich möchte immer möglichst früh wissen, wie und wo gefeiert werden soll, damit ich das Ganze auch möglichst stressfrei vorbereiten und dann am Silvestertag selbst eine unglaublich ruhige Kugel schieben kann. Da ich aber nicht allein feiere, hat dieser Plan jedes Jahr neue Lücken und Schwachstellen. Weil aber gerade diese kleinen Schwachstellen die allgemeine Spannung erhalten und im Nachhinein doch erst die guten von den grandiosen Geschichten unterscheiden, erzähle ich an dieser Stelle mal ein wenig von meinem jüngsten Jahreswechsel.

Geplant war, am 30.12. von Jena nach Berlin zu fahren. Dazu sollte sich unsere Reisegruppe hier treffen und dann gemeinsam, auf mehrere Fahrzeuge verteilt, aufbrechen. Dumm nur, dass  – als ich am 29.12. in Jena ankam – die eine Hälfte bereits in Berlin weilte und die andere Hälfte inzwischen andere Silvesterpläne hatte bzw. nicht zu erreichen war. So begab ich mich auf die Suche nach Alternativen. Bis auf kurzweiligen Stress und eine Ausweichparty mit insgesamt 6 Gästen (4 davon bildeten 2 Pärchen, das verspricht doch immer eine bombige Partystimmung!) ließ sich jedoch auf die Schnelle nichts auftreiben. Doch dann kam die Rettung! Sven erschien wie der rettende Weihnachtsengel endlich am Firmament und sackte mich und Basti einfach mal spontan ein, und fuhr mit uns im Gepäck, kurz vor 19 Uhr in Jena los. Ziel: BERLIN.

Unterwegs konnte unsere kleine Reisegruppe bei atemberaubenden Autobahngeschwindigkeiten um die 130 Stundenkilometer ein nicht enden wollendes Silvesterraketenpanorama bestaunen bzw. sich abwechselnd über die gähnende Leere auf Deutschlands Autobahnen wundern. Mal ehrlich, um Zeit ist absolut nichts los. Keiner Unterwegs. Perfektes Reisewetter für alle staugeplagten Seelen da draußen…

Ich muss unbedingt noch darauf hinweisen, dass keiner von uns 3 Prachtkerlen eine nähere Ortskenntnis vorzuweisen hatte und auch ein Navigationsgerät nicht unserem Wunderköfferchen vorhanden war. Somit mussten wir uns auf eine telefonische Wegbeschreibung und schnöde Verkehrsschilder (yeah, oldschool!) verlassen. Wie durch ein Wunder sollte dies am Ende auch funktionieren und wir haben uns tatsächlich kein einziges Mal verfahren. Ob man das nun uns oder unserem telefonischen Führer zuschreiben mag, bleibt jedem selbst überlassen… Wir haben’s jedenfalls geschafft. Also stellten wir unser Gespann in Lichtenberg ab und – genau – sprangen direkt in eine Straßenbahn. Da es mittlerweile schon gegen 23 Uhr ging, mussten wir uns sputen. Also erstmal fix zum Alexanderplatz, um dort telefonisch dann zum Potsdamer Platz bestellt zu werden… wo wir dann auch tatsächlich 23:30 Uhr endlich eintrafen und unsere Verbündeten Partytiger gerade noch rechtzeitig zum Jahreswechselfreudentaumel fanden. Zusätzlich zur üblichen Euphorie durchströmte uns ein Gefühl des Triumphes. Des Triumphes über die Zeit, die gegen uns lief. Der Sieg  war unser. Wir waren pünktlich!!

Nachdem wir dann dürftig mit Glühwein auf das neue Jahr angestoßen hatten, stürzten wir uns in die Berliner Neujahrsnacht. Da der zwischenzeitlich konsumierte Partycocktail aus Wegbier in der Bahn und Glühwein nicht nur auf’s Gemüt, sondern auch auf die Blase drückte, mussten wir uns etwas einfallen lassen. Die selbständige Suche führte jedoch nicht zu den gewünschten Ergebnissen, sodass wir ganz naiv einen Mitarbeiter der BVG ansprachen und er uns erklärte, dass es weit uns breit keine öffentlichen WCs gäbe. Anscheinend habe ich ihn daraufhin so erschüttert angesehen, dass er sich einen Ruck gab und uns mit einem kleinen Wink über den gesamten U-Bahnhof lotste. Am anderen Ende angekommen, öffnete er dann eine magische Tür und bot uns Erlösung. Ja, wir durften tatsächlich das BVG-Personalklo benutzen. Jetzt können die Berliner allesamt schimpfen, wie sie wollen! Für mich bleibt der nette BVG-Mitarbeiter auf ewig in guter Erinnerung. Als Dankeschön hab ich mir sogar einen Fahrschein gekauft.

Frisch erleichtert ging es weiter im Programm. Wir quetschten uns durch die gnadenlos überfüllten Gänge der U-Bahnstation und zogen unseres Weges gen Warschauer Platz. Dort wurden wir von unserer Partyführerin vor die Wahl gestellt: Standarddisco oder „Die Busche“. Erfüllt von Skepsis und erheitert vom Neujahrsgetränk entschieden wir uns schlussendlich für letzteres und reihten uns in die Schlange vor dem Eingang der Busche ein. Wir dachten, es könnte sicher lustig werden. Schon dort wurden wir binnen Sekundenbruchteilen als „Heten“ geoutet und herzlichst von der Stammklientel empfangen. Das war zwar erst der Anfang, aber schon sehr lustig. Wir haben gelernt, dass es einfach keine politisch korrekte Bezeichnung für dieses Etablissement zu geben scheint, und dass „Homo-Schuppen“ zwar grenzwertig aber noch vollkommen O.K. sei. Erst später sollten wir merken, dass der nette Typ, der uns so freundlich empfing und verständnisvoll aufklärte, sich verdächtig oft bei uns blicken ließ und auffällig oft zuprostete. Ich muss gestehen, meine Erwartungen in Bezug auf den Club selbst wurden schon ein wenig enttäuscht. Bis auf eindeutige Plakate und Spezial-Drinks mit bezeichnenden Namen wie „Sperma“, „Viagra“ oder „Schlumpfenwichse“ war es doch eine stinknormale Disco. Ok, die knutschenden und fummelnden Pärchen in den dunklen Ecken und Gängen war irgendwie anders als sonst… Aber seltsamerweise stört es nicht im Geringsten, wenn sich da zwei hübsche Damen miteinander vergnügen. Doppelmoral ist doch was Feines! Wesentlich auffallender war jedoch die ausgelassene Stimmung. Da ging doch tatsächlich ne Party ab, die ihres gleichen sucht. Man mag spekulieren, woran das liegen könnte, aber eigentlich ist es doch vollkommen egal. Die Stimmung war unglaublich ausgelassen und die Stunden verflogen beinahe unbemerkt. Gelegentliche Avancen wurden höflich abgelehnt und man kam darüber sogar wieder ins Gespräch, was man denn bitte als „Hete“ in der Busche verloren habe. Legendär war auch die Tatsache, dass es während des gesamten Partyaufenthalts keine einzige Eskalation gab. Da hing keiner in seinem eigenen Erbrochenen am Tresen oder wurde pöbelnd und um sich schlagend von der Security der Räumlichkeiten verwiesen. Eine derart friedliche Discoveranstaltung habe ich lang nicht erlebt. Dafür ein ganz dickes Lob an die Gäste und die Belegschaft!

Nachdem wir uns (wir hatten unsere Jacken nicht an der Garderobe abgegeben, da wir uns die jederzeitige Fluchtmöglichkeit offen halten wollten) bis ca. 5 Uhr genüsslich betrunken und auf der Tanzfläche profiliert hatten, brachen wir recht überstürzt nach Hause auf. Schließlich wollten wir ungefähr mittags wieder die Rückreise antreten…

4 betrunkene junge Männer in ihrer gesamten Pracht können sich in einer fremden Stadt jedoch schlecht orientieren. So mussten wir nach der 2ten Straßenbahn resignieren und haben uns ein Taxi gestoppt. Nachdem wir uns ratlos fragten, in welche Richtung wir müssten und wie weit wir wohl vom rechten Weg abgekommen wären, überraschte uns der Taxifahrer mit den Worten „Das is‘ doch gleich ums Eck. Da hättet ihr auch laufen können…“. An dieser Stelle konnten wir nur noch lachen, dass ihm die Ohren klingelten und ließen uns von ihm zu unserem Schlafplatz kutschieren. Obwohl es „gleich ums Eck“ war, wurden dennoch 7,40€ fällig. Das war dann wohl der Silvesterzuschlag.

Unser Domizil, als letzte Station unserer Reise, stellte die größte Überraschung dar. Eine beinahe komplett ausgeräumte Wohnung (Auszug fand 2 Tage zuvor statt) mit einer frustrierten Katze, die scheinbar aus Protest neben das Katzenklo machte, ungehemmt über Tisch und Bänke stolzierte, Taschentücher und ähnliches stibitzte und mit Inbrunst die Tapete von den Wänden kratzte. Dort genehmigten wir uns noch ein Schock-/Gutenachtbier und betteten uns, nachdem wir den Sonnenaufgang noch begrüßt hatten, dürftig mit Decken und Schlafsäcken zur Ruhe. Bis kurz nach elf war das auszuhalten, aber als der Boden dann zu hart und schmerzhaft wurde (ich bin zu alt, um auf dem Boden zu schlafen) musste das Projekt „Schlafen“ abgebrochen werden.

Letztlich endete unser Trip mit einem verkaterten Frühstück im goldenen M, einem durch Streufahrzeuge verursachten Stau auf dem Berliner Ring und einer fast schon Tagesreise zurück nach Jena, wo wir erst am Abend wieder eintrafen. Alles in Allem haben wir zwar mehr Zeit auf der Autobahn als in Berlin verbracht, aber wir waren und sind uns noch immer einig:

Dieser Jahreswechsel war zwar gehörig ungewöhnlich und hat uns zeitweise auch ordentlich verunsichert, aber das war es wert! Nur die Busche überlassen wir dann doch lieber der eigentlichen Zielgruppe…

Ich wünsche euch allen ein frohes Neues!

Hochachtungsvoll,

Karl Prall