31.12.2011 – In ihrer diesjährigen Neujahrsansprache schwört Angela Merkel die Bevölkerung auf ein schwieriges 2012 ein und ruft zum Durchhalten auf. Die Rede beginnt mit der Erinnerung an die Freiheitsbewegung in Nordafrika und endet mit einem Zitat von Heinrich Heine: „Deutschland, das sind wir selber“.
Stärker raus als rein
Angela Merkel beginnt ihre Ansprache mit dem, was ihr von 2011 im Gedächtnis geblieben ist: Die Protestbewegungen in Nordafrika und Nahost, die Atomkatastrophe in Fukushima und die Geburt des „siebenmilliardsten Erdenbürgers“. Danach wendet sich die Kanzlerin sofort der „Schuldenkrise“ zu, die uns nach wie vor „in Atem hält“.
Sie mahnt die Bürger, bei allen Mühen nicht zu vergessen, dass die Vereinigung Europas ein historisches Geschenk für uns alle ist. Ein Geschenk, das uns Frieden, Freiheit, Gerechtigkeit, Menschenrechte und Demokratie gebracht hat. Sie betont die Wichtigkeit, die europäische Währung zu stützen und zu erhalten, verspricht, alles dran zu setzen, den Euro zu stärken und zitiert sich am Ende des Abschnittes selber:
„Der Weg, sie zu überwinden, bleibt lang und wird nicht ohne Rückschläge sein, doch am Ende dieses Weges wird Europa stärker aus der Krise hervorgehen, als es in sie hineingegangen ist.“
Gerechtigkeit, Freiheit und Demokratie? Angesichts der wachsenden Unzufriedenheit in der Bevölkerung, von zunehmender sozialer Not, dem weit verbreiteten Ohnmachtsgefühl gegenüber den politischen Machenschaften und der Sehnsucht nach Mitbestimmung und echter Demokratie drängt sich der Eindruck auf, dass die Kanzlerin von einem anderen Land spricht.
Deutschland geht es gut
Vor der diesjährigen Sommerpause des Parlaments hatte Angela Merkel in einer Pressekonferenz verkündet, Deutschland ginge es so gut, wie lange nicht. Schon damals hatte sie den besorgniserregenden Bericht der UN zur sozialen Lage in Deutschland und die Untersuchung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung über das drastische Absinken der Nettogehälter in den unteren Einkommensstufen zwischen 2000 und 2010 ignoriert.
Anfang September haben 3.100 Fachleute im Rahmen eines arbeitsmarktpolitischen Appells vor einem „Zwei-Klassen-Arbeitsmarkt“ gewarnt. Anfang Dezember macht die OECD auf eine bedrohliche Vergrößerung der Kluft zwischen Arm und Reich in Deutschland aufmerksam und sieht Anzeichen für soziale Unruhen und politische Instabilität. Ende Dezember berichtet der Paritätische Wohlfahrtsverband, dass hierzulande rund 12 Millionen Menschen akut von Armut bedroht sind.
Für die Kanzlerin sind dies alles keine überzeugenden Gründe, ihre optimistische Sichtweise zu korrigieren:
„Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, gerade in Deutschland haben wir Grund zur Zuversicht. Fast alle jungen Menschen haben in diesem Jahr einen Ausbildungsplatz gefunden. Es sind so wenig Menschen arbeitslos wie seit 20 Jahren nicht. Deutschland geht es gut, auch wenn das nächste Jahr ohne Zweifel schwieriger wird als dieses.“
Für den so unglaublich positiven Status unseres Landes bedankt sich Angela Merkel bei allen Menschen und bei „unseren“ Polizisten und Soldaten. Die Menschen haben durch ihren „Fleiß“ und ihre „Unermüdlichkeit“ Erfolg und Wohlstand möglich gemacht. Die Polizei hat „zu Hause“ für Freiheit und Sicherheit gesorgt. In „vielen Regionen der Welt“ haben Soldaten „unter Einsatz ihres Lebens“ dasselbe getan.
Menschlich und erfolgreich
Das Loblied auf „Freiheit“ und „Sicherheit“ leitet die Kanzlerin zum nächsten Stichwort: Der Aufdeckung einer „rechtsextremistischen Terror- und Mörderbande“ im Herbst diesen Jahres. Hierbei verirrt sich kein einziges Wort über die Versäumnisse von Politik, Verfassungsschutz, Polizei oder Behörden in die Ansprache. Ebenso wenig taucht der Name eines Opfers oder eine Entschuldigung bei den Angehörigen auf. Stattdessen erklärt Merkel den Kampf für eine „offene und freiheitliche Gesellschaft“ – reichlich spät – zur Daueraufgabe der Politik.
Schnell kommt sie jetzt noch auf die Herausforderungen für 2012 zu sprechen: Die Aufgabe der Bundesregierung:
„Wir wollen, dass unser Land das bleiben kann, was es ist: menschlich und erfolgreich.“
Was ist hierzu erforderlich? Merkel will die Familien stärken, das Land kinderfreundlicher gestalten, die sozialen Sicherungssysteme verändern, die Finanzen solide und krisenfest gestalten, die Umwelt schützen, den Wohlstand sichern und die Gesellschaft zum Lernen anregen.
Erste Schritte hierzu hat die Kanzlerin bereits eingeleitet:
„Zu diesen Fragen habe ich mit über 100 Experten einen Dialog über Deutschlands Zukunft begonnen, und dazu möchte ich auch mit Ihnen ins Gespräch kommen.“
Darüber, wer die „Experten“ sind, mit denen sie über die Zukunft Deutschlands verhandelt, sagt die Kanzlerin nichts. Gehen wir also davon aus, dass hiermit, wie üblich, die Bertelsmann Stiftung, die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, die unzähligen Lobbyverbände der Wirtschaft, die überbezahlten und überschätzten Politikberater und die Vertreter der Medien, der Finanzwirtschaft, der Versicherungs- und der Bankenbranche gemeint sind.
Aber keine Sorge: Ab Februar dürfen auch wir wieder per Internet mit Angela Merkel diskutieren und unsere Vorschläge einbringen. Der „digitale Bürgerdialog“ geht in die nächste Runde. In ihrer eigenwilligen Interpretation von „Dialog“ wird Merkel dann wieder ausgewählte Fragen bei YouTube beantworten und uns von der Alternativlosigkeit ihres Handelns überzeugen.
Merkel und der Dichter
Die Kanzlerin zitiert am Ende ihrer Neujahrsansprache Heinrich Heine. Der Dichter hatte 1832 in der Vorrede zu seinem Buch „Salon I“ geschrieben: „Deutschland, das sind wir selber“.
Mit dieser Zeile unterstreicht Merkel ihren Aufruf an die Bevölkerung, tatkräftig mitzumachen, wenn es im schwierigen Jahr 2012 darum gehen wird, unseren Wohlstand zu erhalten.
Als Heine den Satz schrieb, lebte er im französischen Exil, weil seine Anwesenheit als kritischer Schriftsteller und Journalist in Deutschland nicht erwünscht war. In Paris wurde er Zeuge der großen deutschen Auswanderungswelle im 19. Jahrhundert. Er sah Flüchtlingsströme, die sich von Deutschland aus über Frankreich auf den Weg nach Nordafrika machten, um Hunger, Not, Verfolgung und Unterdrückung im Heimatland zu entgehen.
Die damaligen Auswanderer fürchteten sich vor den Verhältnissen in Afrika. Man hatte von gefährlichen Giftschlangen gehört und von Affen, die nicht nur die Ernte schädigen sondern sogar Kinder stehlen und in die Wälder verschleppen. Erst vor diesem Hintergrund versteht man den vollständigen Textabschnitt, aus dem die Kanzlerin nur einen einzigen Satz zitiert:
„Deutschland, das sind wir selber. Und darum wurde ich plötzlich so matt und krank beim Anblick jener Auswandrer, jener großen Blutströme, die aus den Wunden des Vaterlands rinnen und sich in den afrikanischen Sand verlieren. Das ist es; es war wie ein leiblicher Verlust, und ich fühlte in der Seele einen fast physischen Schmerz. Vergebens beschwichtigte ich mich mit vernünftigen Gründen: Afrika ist auch ein gutes Land, und die Schlangen dort züngeln nicht viel von christlicher Liebe, und die Affen dort sind nicht so widerwärtig wie die deutschen Affen.“
Gedruckt werden durften diese Worte im damaligen Deutschland natürlich nicht. Ebenso wenig wie das, was Heine fast zeitgleich in der Vorrede zu seinem Werk „Französische Verhältnisse“ über die deutsche Regierung notierte:
„Nie ist ein Volk von seinen Machthabern grausamer verhöhnt worden. Nicht bloß, daß jene Bundestagsordonnanzen voraussetzen, wir ließen uns alles gefallen: man möchte uns dabei noch einreden, es geschehe uns ja eigentlich gar kein Leid oder Unrecht. Wenn ihr aber auch mit Zuversicht auf knechtische Unterwürfigkeit rechnen durftet: so hattet ihr doch kein Recht uns für Dummköpfe zu halten.
Eine Handvoll Junker, die nichts gelernt haben als ein bißchen Roßtäuscherei, Volteschlagen, Becherspiel oder sonstig plumpe Schelmenkünste, womit man höchstens nur Bauern auf Jahrmärkten übertölpeln kann: diese wähnen damit ein ganzes Volk betören zu können, und zwar ein Volk, welches das Pulver erfunden hat und die Buchdruckerei und die Kritik der reinen Vernunft.“
Dem ist nichts hinzuzufügen. Ich wünsche all meinen Lesern trotzdem ein gerechtes, friedliches und demokratisches 2012.