Leseprobe:
“Der Rechtsextremismus in Deutschland hat sich in den letzten Jahren tief greifend gewandelt. Er ist zugleich bürgerlicher und militanter geworden.
Vergessen Sie die Springerstiefel, bitte! Schlagen Sie sich dieses Bild aus dem Kopf, dieses Bild eines Skinheads in Bomberjacke und hochgeschnürten Springerstiefeln, am besten mit weißen Senkeln. Wenn Zeitungen über Rechtsextremismus schreiben, egal ob es um rassistische Gewalttaten geht oder um die neue Neonazi-Zentraldatei, um V-Leute oder das NPD-Verbot – immer zeigen sie dieses eine Foto: zwei gewienerte, schwarze Doc-Martens-Stiefel mit hohem Schaft und strahlend weißen Schnürsenkeln, die Person darüber ist weggeschnitten, die Stiefel stehen auf rauem Asphalt, ein paar Herbstblättchen sind noch zu sehen. Man kann das Foto fast eine Ikone nennen. Seit knapp anderthalb Jahrzehnten verbreitet die Nachrichtenagentur dpa diese Aufnahme, und Zeitungen, Fernsehsender und OnlineMagazine verwenden es überaus gern. Doch kaum ein Neonazi sieht noch so aus. Den Bilderbuchskin mit eben solchen Springerstiefeln gibt es praktisch nicht mehr. Weil aber Fotoredakteure weiterhin uralte Bilder zeigen – und damit die Vorstellungswelt ihres Publikums prägen –, erkennt heute die Öffentlichkeit viele Rechtsextremisten nicht mehr.
Der rechte Rand hat sich seit den Neunzigerjahren tief greifend gewandelt: Er hat sich zugleich radikalisiert und verbürgerlicht. Am einen Ende des Spektrums sind die so genannten Autonomen Nationalisten entstanden, eine junge, äußerst gewaltbereite Strömung der Neonazi-Kameradschaften, die gezielt Polizisten, Journalisten oder politische Gegner angreifen. Am anderen Ende erstarkten die gemäßigten Rechtspopulisten, die sich bürgerlichkonservativ geben und aus vorgeblich freiheitlicher Motivation gegen den Islam hetzen. Zwischen diesen beiden Polen droht die NPD, die im letzten Jahrzehnt die Szene dominierte, regelrecht zerrieben zu werden. Derweil diskutiert die Politik wieder und wieder ein Parteiverbot – und schlägt damit eine schon einmal verlorene Schlacht. Als im Herbst 2011 zufällig die Terrorzelle Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) auffog, war die Republik geschockt – dermaßen fanatisierte Rechtsextremisten hatte man nicht für möglich gehalten (obwohl es doch in der bundesdeutschen Geschichte reihenweise rechte Terroristen gab).
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Äußerlich aber sind sie im 21. Jahrhundert angekommen und auf vielerlei Ebenen modern: sprachlich (sie sind nah am üblichen Jugendslang) und technisch (die Medien Internet und Video beherrschen sie virtuos), akustisch (ihre NS-Hardcore-Musik rockt wirklich) und optisch (sie haben Streetart und Comics adaptiert). Das Ergebnis lässt sich etwa auf der Website strassenkunst.info besichtigen. Dort senden Neonazi-Sprayer Fotos ihrer Arbeiten ein, zum Beispiel SS-Parolen im Graffiti-Stil, und auf ihren Twitter-Kanal weisen die Macher der Seite mit einer gekonnten Cartoon-Zeichnung hin: mit einem Vögelchen (dem bekannten Logo des Kurznachrichtendienstes), das einen Wehrmachtshelm trägt. Die rechte Jugendkultur ist heute ein lebendiger Kosmos mit einer schier unüberschaubaren Vielfalt an Musik und Kleidungsstilen. Mit Versandhäusern, Bekleidungsmarken und Musiklabeln ist eine rechte Kulturindustrie gewachsen, die Millionenumsätze macht. Im Unterschied zur proletarisch-brutalen Skinhead-Szene oder der bündisch geprägten Wiking-Jugend verzichten die AN auf strenge Vorschriften. An Musik und Kleidung ist erlaubt, was gefällt. Elemente der angloamerikanischen Jugendkultur wie HipHop oder Kapuzenpullis, die anderen Neonazis als undeutsch gelten, werden von den AN hemmungslos übernommen, Widersprüche zur völkischen Ideologie einfach ausgeblendet. Soziologisch kann man das als Anpassung an den Zeitgeist der westlichen Welt verstehen: Der ist geprägt von inhaltlicher Beliebigkeit und einem Anything-goes, die Oberfläche ist wichtiger als der Inhalt, kaum jemand interessiert sich noch für Ideologien. Jugendliche sind es gewohnt, ihre Identität wie ein Patchwork aus verschiedenen Szenen zusammenzusetzen – und genauso verfahren die Autonomen Nationalisten. Lehrer, Streetworker und Polizisten wissen kaum noch, wie sie diese neuen Nazis erkennen können….”
Quelle und mehr: http://www.freitag.de/buch-der-woche/neue-nazis/nazis_leseprobe