Neue Blickwinkel aus Vilna

Neue Blickwinkel aus Vilna

Diese Situation kennt wohl jeder: Man überlegt und grübelt und kommt doch der Lösung eines Problems keinen Schritt näher. Und dann sitzt man mit Kollegen bei einem Kaffee zusammen, erzählt von dem Problem und plötzlich zeigt das Gegenüber eine neue Sichtweise auf, die das Elefantenproblem wieder auf Mückengröße schrumpfen lässt.

Dass der Blick von außen wertvolle neue Blickwinkel aufzeigen und Denkanstöße geben kann, hat auch die Association of European Jewish Museums erkannt und ein Förderprogramm ins Leben gerufen, das den fachlichen Austausch zwischen jüdischen Museen in Europa fördert. Das Advisory Visits Grants Programme entsendet Mitarbeiter der Mitgliedsmuseen als Berater an kleinere jüdische Museen, um diese zum Beispiel bei der Umgestaltung der Dauerausstellung oder der Konzeption neuer Vermittlungsprogramme zu unterstützen.

Neue Blickwinkel aus Vilna

Im Rahmen dieses Förderprogramms hatte ich im August die Gelegenheit, nach Litauen zu reisen, um dort die Kolleginnen zu unterstützen, die am Vilna Gaon Jewish State Museum für die Vermittlung der Ausstellungsinhalte zuständig sind.

Drei Tage lang beschäftigten wir uns intensiv mit den Vermittlungsinhalten der verschiedenen Ausstellungsorte, die die Mitarbeiterinnen des Vilna Gaon Jewish State Museum betreuen.

Das Tolerance Center ist in einem historischen Gebäude untergebracht, das seine Anfänge als jüdische Suppenküche nahm und dann zu einem Konzert- und Theatersaal umgewandelt wurde. Die Ausstellungen im Tolerance Center ermöglichen den Besuchern einen Einblick in jüdische Religion und Kultur und in die verlorene Welt des litauischen Judentums. Vilna, das „Jerusalem Litauens“, war als ein bedeutendes geistiges Zentrum bekannt, in dem der Gaon von Wilna, ein berühmter jüdischer Gelehrter des 18. Jahrhunderts, wirkte.

1925 wurde in Vilna das Jiddische Wissenschaftliche Institut (YIVO) gegründet, das sich der Erforschung der jüdischen Geschichte und Kultur in Osteuropa widmet. Ein besonderes Augenmerk galt dabei der jiddischen Sprache, die nicht nur als Alltagssprache der osteuropäischen Juden diente, sondern auch als Sprache der Literatur und der Medien besondere Bedeutung erlangte.

Dass die Bedeutung der jiddischen Sprache in Vilna heute noch nachklingt, kann man vielleicht daran ermessen, dass die Verfassung der Unabhängigen Republik Užupis, die in den 1990er Jahren von einigen Künstlern in einem Altstadtviertel ausgerufen wurde, auch in einer jiddischen Fassung vorliegt.

Neue Blickwinkel aus Vilna

Im Vilnaer Stadtbild findet man heute nicht mehr viele Hinweise auf die jüdische Geschichte der Stadt. An einigen wenigen Häusern kann man noch jiddische Inschriften erahnen, die auf die einst in den Gebäuden untergebrachten Geschäfte aufmerksam machten.

Die 600jährige Geschichte der litauischen Juden wurde durch die Schoa weitgehend ausgelöscht: Mehr als 90 Prozent der litauischen Juden wurden während des Zweiten Weltkriegs ermordet.

So steht das Vilna Gaon Jewish State Museum vor der Herausforderung, die Geschehnisse der Schoa in Litauen nachzuzeichnen, die Erinnerung an die jüdischen Opfer zu bewahren und gleichzeitig auch heutige Bezüge zur reichen und faszinierenden Kultur des litauischen Judentums für die interessierte Öffentlichkeit aufzuzeigen.

Neue Blickwinkel aus Vilna

Text und Fotos: Elisabeth Schulte


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