Italo war dieses Mal etwas verhaltener. Er hatte etwas Angst, ganz alleine für 2 Kinder und mich sorgen zu müssen. Er war erst 24 Jahre alt, alkoholkrank und hatte die Verantwortung für eine ganze Familie. Dieser Druck lastete schwer auf ihm.
Doch ich war guter Dinge und glaubte an unsere Chance.
Die neue Arbeitsstelle war in Norditalien, in Cremona. Cremona liegt in der Poebene und ist die Geburtsstadt von Stradivari. Heute noch genießt diese Stadt einen weltweit exzellenten Ruf im Geigenbau. Geigenbauer aus der ganzen Welt lassen sich dort ausbilden.
Der Arbeitsbeginn sollte der 1. August 1984 sein. Bis dahin hatten wir noch 3 Monate Zeit, denn die Zusage bekam Italo Anfang Mai.
Diesmal verlief meine Schwangerschaft nicht ganz so harmlos wie bei Bianca. Bei ihrer Geburt war der Muttermund eingerissen worden und nun bestand die Gefahr. dass ich mein zweites Baby verlieren würde, weil der Muttermund durch die Risse zu instabil war. So musste ich mich in der 12.Schwangerschaftswoche einer kleinen OP unterziehen. Man legte mir eine Cerclage. Das ist ein Gummiband, mit dem man den Muttermund zusammenzog und stabilisierte, damit ich unser Kind austragen konnte.
Ich hatte panische Angst um mein Baby, aber es ging alles gut und ich konnte nach ein paar Tagen das Krankenhaus wieder verlassen. Komplikationen gab es danach keine mehr.
Italo und ich planten, dass er Ende Juli nach Italien gehen würde. Alleine. Ich würde mit Bianca so lange in Deutschland bleiben, bis unser zweites Kind geboren war und dann mit den Kindern nachkommen.
Die Zeit verflog und der Tag von Italo's Abreise war gekommen. Uns fiel der Abschied nicht leicht, keiner wusste, was uns in der Zukunft erwarten würde. Auch wenn Italo gebürtiger Italiener war, so war Italien doch ein fremdes Land für ihn, das er nur von den Ferien her kannte. Er war ja gerade mal 2 Jahre alt, als er nach Deutschland kam. An diesem Tag hatten wir beide Angst vor unserer eigenen Courage. Wir weinten beide beim Abschied und machten uns gegenseitig Mut.
Bianca und ich begleiteten ihn zum Hauptbahnhof und winkten dem Zug Richtung Mailand, mit dem Italo reiste, noch lange, lange nach.
Nun war Italo weg. Und Bianca, das ungeborene Baby und ich waren auf uns alleine gestellt. Mir war richtig mulmig zumute bei dem Gedanken, riss mich aber zusammen, nahm meine Tochter bei der Hand und fuhr mit ihr nach Hause.
Italo meldete sich 2 Tage später telefonisch. Er war gut angekommen, hatte bereits eine 1-Zimmer-Wohnung im Zentrum von Cremona über seine Firma erhalten und war auch schon eingezogen. Die Wohnung war möbliert und er fühlte sich wohl. Cremona sei eine nette Stadt mit einem schönen Dom meinte er, nur das Klima dort sei sehr schwül. Es bestünde permanent eine hohe Luftfeuchtigkeit, die einem bei der geringsten Anstrengung schweißnass werden ließ. Am nächsten Tag sollte sein erster Arbeitstag sein und er war sehr nervös.Und er hatte getrunken. Ich hörte es an seiner Aussprache, er nuschelte verdächtig.
Einen italienischen Führerschein hatte er bereits beantragt. Innerhalb einer Woche war er wieder im Besitz einer gültigen Fahrerlaubnis. Wie das geht? Ganz ehrlich: bis heute habe ich es vorgezogen, das nicht zu wissen! Aber eines ist sicherlich klar: es waren nicht die normalen Wege, die man für so eine schnelle Fahrerlaubnis beschreiten musste. In Italien gab es damals immer Alternativen, wenn einem der offizielle Weg versperrt war, man musste nur das nötige Kleingeld dafür haben.
Italo's Bruder kaufte in Deutschland einen alten, quietschegelben Renault 12 und fuhr dieses Auto nach Italien zu Italo, so war er in kürzester Zeit wieder mobil.
Der erste Arbeitstag war da. Italo musste anfangs körperlich hart arbeiten. Morgens um 9.30 Uhr gings los bis 13 Uhr. Dann war Siesta-Zeit bis 15 Uhr und anschließend wurde gearbeitet bis 20 Uhr. 6 Tage in der Woche. Erst als nach einigen Wochen genügend Personal eingestellt war, konnte er seinen Aufgaben als stellvertretender Filialleiter des Baumarktes nachgehen.
Wir telefonierten zwar regelmäßig alle 2 Tage, aber nach zwei Wochen ohne ihn hielt ich es nicht mehr aus. Ich vermisste ihn, wollte unbedingt zu ihm und mir das Leben dort mit eigenen Augen anschauen.
Ein Auto hatte ich. Wir hatten uns 2 Monate nach seinem Unfall einen uralten Golf 1 in einem hässlichen olivgrün für ein paar Hundert DM gekauft.
Es war der 15. August 1984. Der Tag, an dem ich beschloss, abends loszufahren und mit Bianca nach Cremona zu fahren, um ihren Vater zu besuchen. Ich versuchte den ganzen Tag immer wieder, ihn auf der Arbeit telefonisch zu erreichen. Aber niemand ging ans Telefon. "Was ist denn das für ein Saftladen?" dachte ich. "Das gibts doch nicht! Die Telefonzentrale der Firma muss doch besetzt sein!" Doch so oft ich auch anrief, kein Mensch nahm ab. Erst später erfuhr ich, dass in Italien der 15. August ein Feiertag ist, kein Wunder also, dass ich niemanden erreichte.
Ich musste ihn aber unbedingt sprechen, denn ich wusste zwar, dass er in Cremona wohnte, aber die genaue Adresse wusste ich nicht. Er hatte mir von einer Via R... erzählt, an mehr erinnerte ich mich nicht mehr. Außerdem wollte ich von ihm wissen, welche Strecke ich am besten nehmen sollte, über die Schweiz oder über den Brenner? Ich war 22 Jahre alt und noch nie alleine nach Italien gereist, daher meine Unwissenheit.
Da ich Italo telefonisch nicht erreicht hatte, musste ein Plan B her.
Routenplaner gabs noch keine. So kaufte ich mir eine Landkarte an der Tankstelle. Ich schaute mir an, wo Stuttgart lag, schaute mir an, wo Cremona lag. Cremona lag ziemlich direkt ein paar Zenitmeter unterhalb von Stuttgart. Ok, dachte ich, fuhr mit dem Finger die imaginäre Linie direkt von Stuttgart nach Cremona hinunter. "Genauso fahre ich. Das ist der direkte Weg!". Dass ich bei dieser Strecke eventuell abenteuerliche Pässe über die Alpen hinnehmen müsste, soweit dachte ich damals nicht. Ich rechnete mit ungefähr 9 Stunden Fahrt für ca. 800 km. Der Plan war, dass ich ganz früh morgens ankommen würde. Dann würde ich mich auf die Suche nach seinem signalgelben Renault 12 mit deutschem Kennzeichen machen. Ich war tatsächlich naiv genug zu glauben, dass ich dieses Auto in einer fremden Stadt mit ungefähr 70.000 Einwohnern finden würde!! Wenn ich sein Auto erst mal hatte, das sicherlich in einer Via R... oder ganz in der Nähe geparkt war, dann könnte ich die Hauseingänge abklappern und nach seinem Namensschild suchen. Ich würde ihn finden, ich war mir sicher! Ich wollte auf gar keinen Fall auch nur einen Tag länger warten, bis ich ihn telefonisch erreichen konnte, nun war meine Abenteuerlust erwacht und ich wollte ihn überraschen.
Gegen 18 Uhr fuhr ich mit Bianca, dem ungeborenen Baby und etwas Gepäck in meinem altersschwachen Golf los. Die Karte lag ausgebreitet neben mir auf dem Beifahrersitz.
Das Abenteuer begann.