Derzeit muss ich viel arbeiten, in meiner Freizeit habe ich dann nicht unbedingt Lust, zu schreiben. Aber zu lesen – derzeit lese ich Maschinenfabrik N.&K. von Willi Bredel, erschienen im Jahr 1930. Sehr interessant und aufschlussreich, vor allem aber erschreckend, wie wenig sich seit dem geändert hat. Der Roman beschreibt – wie der Titel schon nahelegt – die Zustände in einer Maschinenfabrik: Die Kapitalisten wollen mehr Profit aus den Arbeitern holen, die Arbeiter dagegen fordern bessere Arbeitsbedingungen und mehr Lohn. Allerdings sind sie sich auch nicht einig – die Sozialdemokraten in der Arbeitervertretung haben die vom Betrieb geforderten Überstunden schon abgenickt, schließlich geht es um die Wettbewerbsfähigkeit des Betriebs, die Kommunisten fordern die Leute auf, für den schäbigen Lohn nicht noch länger zu arbeiten. Als ein altgedienter Arbeiter nach seinem fünfzigjährigen Betriebsjubiläum Selbstmord begeht, weil ihm die erwartete Betriebsrente verweigert wird, wird einigen klar, dass es so nicht weiter gehen kann.
Eine selbstbewusste Arbeitervertretung ist heute nötiger denn je.
Hier eine Leseprobe:
Arbeiterkorrespondenz 2516.
Der alte John hatte sich erhängt. Wie ein Peitschenhieb traf die Nachricht jeden Arbeiter. Der Betrieb glich im Nu einem aufgewühlten Ameisenhaufen. Eine drohende Schwüle herrschte in allen Abteilungen. Überall diskutierten Gruppen. Drohungen, Verwünschungen wurden ausgestoßen. Einige verlangten Proteststreik, andere sofortige Belegschaftsversammlung. Der Hobler Hans ging an Bleckmanns Drehbank vorüber. „Nimm man die Tannenzweige und binde einen Kranz draus!” rief er.
Bleckmann tat, als höre er nichts.
Bald wurden ergänzende Meldungen bekannt. Das greise Ehepaar Holt, eben John und seine achtundsiebzigjährige Frau, hatten sich gemeinsam in ihrer Wohnung erhängt. Auf dem Tisch fand man auf einem weißen Briefumschlag einen Fünfzigmarkschein. Nachbarn hatten sie am Morgen gefunden; nachdem sie bereits die ganze Nacht gehangen hatten.
Der Arbeiterrat hatte alles getan, um eine Protestbewegung zu unterdrücken. Am Tage der Beerdigung sollte etwas unternommen werden. Der Betrieb arbeitete wieder. Die Arbeiter hatten sich scheinbar beruhigt.
Melmster war ganz in seine Arbeit vertieft. Durch die vielen Diskussionen hatte er Zeit verloren. Lange, durch die schnellen Umdrehungen blaue Spanspiralen drehte der Stahl aus dem Eisen. Und immer wieder ertappte er sich, wie er an den alten John dachte. Das war das Proletarierende. Fünfzig Jahre geschuftet, gerackert, fünfzig mal dreihundert Tage täglich an der Drehbank gewühlt, nur um das kärgliche Leben zu erhalten und dem Unternehmer den Profit zuzuschanzen, um dann schließlich, wenn die Haare grau, die Glieder steif und die Hände zittrig wurden, sich erhängen zu müssen. Das war unsere Zivilisation – das war die „soziale Republik”.
„Er hätte es nicht zu tun brauchen”, meinte Olbracht. Melmster stellte erstaunt fest, dass er nicht grinste.
„Ich habe mir ausgerechnet, was er an Invalidenrente bekommen hätte.”
Sie wollen ihr Gewissen beruhigen, dachte Melmster und sagte: „Kann man denn von diesen Bettelpfennigen leben?”
„Alte Leute brauchen nicht viel”, entgegnete Olbracht.
„Ich will dir was sagen: Was wir jetzt erlebt haben, ist ein Stück von dem Irrsinn der kapitalistischen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung. Wer nicht das Glück hat, vor dem Altwerden zu krepieren, der muss, wenn er graue Haare hat, Hand an sich legen. Geh mir los!”
„Wie willst du das ändern?”
„Komische Frage von einem angeblichen Sozialisten. Durch die Herrschaft der Arbeitenden und eine sozialistische Staatsund Gesellschaftsordnung!”
„Die Menschen sind nicht reif!”
„Man muss gesunde Verhältnisse schaffen, sozialistische.” „Nur der aufgeklärte Mensch schafft sich gesunde Verhältnisse.”
„Olbracht, wir als organisierte Arbeiter sollten dazu aufgeklärt genug sein. Aber die Masse der Menschen ist ein Produkt ihrer Verhältnisse, wir sozialistischen Arbeiter müssen Verhältnisse schaffen, die für alle gesund sind!”
„Ich bin aber gegen Zwang!”
„Das ist ja nicht wahr, du bist, genauso wie ich, der Auffassung, dass hier im Betrieb jeder Arbeiter organisiert sein muss. Der Arbeiter, der einen Streik, welcher mit Mehrheit beschlossen wurde, nicht mitmacht, wird als Streikbrecher aus dem Betrieb gejagt. Ist das Demokratie? Aber übertrage diese Gedankengänge auf die große Politik, und du kommst zur Diktatur der Arbeiterschaft, das heißt zur Diktatur der übergroßen Mehrheit der Arbeitenden über eine kleine Clique Gauner, Hals- und Kuponabschneider!” Olbracht grinste und winkte ab.
Der Arbeiterrat hatte unter dem Druck der erregten Stimmung im Betrieb beschlossen, am Tag der Beerdigung des Ehepaares Holt eine Stunde früher den Betrieb zu verlassen. Ausdrücklich erklärte jedoch Obmann Kühne, dies sei keine Demonstration gegen die Betriebsleitung, sondern eine Ehrung des verstorbenen Kollegen.
Die kommunistische Opposition im Betrieb hatte einen eintägigen Proteststreik gegen das schändliche Verhalten des Unternehmers gefordert. Der Betriebsrat hatte es abgelehnt, diesen Vorschlag überhaupt zur Kenntnis zu nehmen.
Am Tage der Beerdigung standen in verschiedenen Zeitungen Nachrufe. Die Angestellten hatten im demokratischen „Anzeiger”, der Arbeiterrat in der sozialdemokratischen Presse einen schwülstigen Nachruf veröffentlicht. Der Selbstmord wurde schamhaft in „trauriges Ende” und „hoffnungsloses Alter” umfrisiert und mit keiner Silbe erwähnt.
Die kommunistische „Arbeiterzeitung” aber war die Sensation des Betriebes. Unter der Überschrift „Der Jubilar” stand darin eine Arbeiterkorrespondenz folgenden Inhalts:
Arbeiterkorrespondenz 2516. Johann Holt war ein Greis von sechsundsiebzig Jahren. Er stand fünfzig Jahre an der großen Karusselldrehbank der Maschinenfabrik N. & K. Als junger, frischer Bursch war er auf der Walze quer durch Deutschland in unsere Stadt gekommen und blieb, wie es so im Leben ist, hier sitzen. Er hatte zu tief in die Augen einer Frau gesehen und richtete sich ein, bei der Firma N. & K. eine Lebensstellung zu suchen. Er witterte, wie man das anfangen musste. Er arbeitete nicht nur unermüdlich, ohne Unzufriedenheit zu zeigen, täglich seine zwölf und, wenn es sein musste, vierzehn Stunden, sondern rückte auch weit ab von den sozialdemokratischen Agitatoren, die damals ihre hetzerische Tätigkeit im Betrieb entfalteten. Er war ein Freund der bestehenden Ordnung, und da er niemals die wilden Streiks und Unruhen der Sozialdemokratie mitmachte und sogar einmal zur Zeit des Sozialistengesetzes einen illegalen sozialdemokratischen Agitator denunzierte, war er bald der Intimus des alten Chefs geworden. So hatte er sich seine gesicherte Stellung errungen und lebte einen ruhigen und bescheidenen, wenngleich arbeitsreichen Tag.
Zwei Pole füllten durchaus sein Leben aus: die Arbeit an der großen Karusselldrehbank bei N. & K. und die paar Stunden Ruhe und Ausspannung bei seiner kleinen Familie im Hinterhaus der Roloffstraße.
So flossen Jahre und Jahrzehnte dahin. Johann Holts Junge, Arthur, war in mühseligen, entbehrungsreichen Jahren groß und stark geworden, hatte ein Handwerk gelernt und war dann in Frankreich gefallen. In seinen alten Tagen war Holt wieder einsam und lebte mit seiner von Arbeit und Gram gebeugten, halbblinden Frau ein stilles Dasein. Teilnahmslos ließ das alte Ehepaar, nachdem Moloch Krieg den Sohn gefressen hatte, die Revolutionsjahre an sich vorüberziehen. Und ihre einzige staatsbürgerliche Handlung bestand darin, dass sie von Zeit zu Zeit von einigen netten Herren mit dem Auto abgeholt wurden, um der einzig wahren und gerechten deutschnationalen Partei ihre Stimme zu geben. Auf diese Weise hatten auch die beiden alten Leute den kaiserlichen Feldmarschall Hindenburg zum Präsidenten der Republik gewählt.
Fünfzig Jahre hatte Johann Holt so Jahr für Jahr, Tag für Tag seine Drehbank bedient. Längst war sein Rücken gebeugt und sein Haar ergraut. Heute war er nun fünfzig Jahre Dreher bei N. & K. Die Kollegen hatten einige Blumen um die Drehbank gewunden, mit einer großen „50″ darüber, und Johann Holt überdachte die fünfzig Jahre seines Lebens, die er hier verbracht hatte.
Da wurde ihm plötzlich leise auf die Schulter geklopft. Holt drehte sich um, und das Herz schlug ihm bis zum Hals, vor ihm stand der Chef der Firma. Dies war der größte Augenblick in Holts Leben, auf den er fünfzig Jahre gewartet hatte und wo er die Ernte seines arbeitsreichen Lebens einbringen wollte.
„Mein lieber Holt”, begann der Chef, „im Namen der Firma Negel & Kopp spreche ich Ihnen für Ihre treuen Dienste, die Sie geleistet haben, unsern herzlichen Dank aus. Leider ist die großmütige Spende des verehrten Gründers unserer Firma durch die Inflation verloren gegangen. Aber auch wir wollen uns erkenntlich zeigen, und ich bin beauftragt, Ihnen dies zu überreichen. Wir nehmen an, dass sie den verständlichen Wunsch haben, sich zur Ruhe zu setzen, Sie wissen ja, mein lieber Holt, dass die sozialen Institutionen Ihnen treu zur Seite stehen. Nochmals unseren herzlichen Dank und Glückwünsche für Ihren Lebensabend!” Damit schüttelte er dem Greis die Hand, machte kehrt und ging ins Büro zurück.
Der alte Holt schaute ihm entgeistert nach. Das war so ganz anders, als er gedacht hatte. Mit zitternden Händen öffnete er das Kuvert. Er zog einen Fünfzigmarkschein heraus. Heimlich und still wie ein räudiger Hund schlich er aus der Fabrik.
Gestern stand folgende Notiz in der Zeitung: „Ein altes Ehepaar mit Namen Holt, wohnhaft Roloffstraße, verübte Doppelselbstmord durch Erhängen. Die Motive der grausigen Tat sind unbekannt.”
Es gab keinen in der Fabrik, der nicht die Zeitung las.
Es gab keinen, dem nicht das Blut in die Schläfen schoss.
Es gab kaum einen, der nicht an sein eigenes Leben dachte.
Es gab leider noch zu wenige, die die Faust ballten und diesem kapitalistischen Mordsystem Fehde schworen.
Wer auch den Rest lesen will, der kann das bei Nemesis, dem sozialistischen Archiv für Belletristik tun.