Netter Besuch

Am Dienstagabend – es war schon ziemlich spät – rief mich die Erkältung an. “Hör mal”, sprach sie, “hast du morgen Zeit für einen netten Schwatz? Wir haben uns seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen…” “Na ja, wie man’s nimmt. Mir scheint, wir haben uns eben erst gesehen”, unterbrach ich sie, aber die Erkältung überhörte meinen Einwand. “Ich finde, wir verbringen viel zu wenig Zeit miteinander. Immerhin sind wir beste Freundinnen.” “Beste Freundinnen? Wir zwei?”, fragte ich, aber die Erkältung tat wieder so, als hätte sie mich nicht gehört. “Ich komme dann also morgen vorbei. So gegen sieben Uhr morgens, passt dir das?” “Nein, das passt mir ganz und gar nicht. Am Vormittag muss ich zur Arbeit, am Nachmittag bin ich mit meinem Vater unterwegs und am Abend hat Karlsson seinen grossen Auftritt. Keine Chance, dass ich dich irgendwo dazwischen nehmen kann”, wehrte ich ab, aber die Erkältung hatte bereits wieder aufgelegt.

Am frühen Mittwochmorgen stand sie tatsächlich vor der Tür. “Verschwinde”, knurrte ich missmutig, aber sie liess sich durch meine Unfreundlichkeit nicht beeindrucken. “Schönen guten Morgen”, rief sie fröhlich und fiel mir um den Hals. “Wie habe ich dich doch vermisst. Komm, setz dich aufs Sofa, dann können wir ein wenig quatschen. Schau mal, was ich dir mitgebracht habe: Einen Brummschädel, eine erstklassige Triefnase und diesen netten Reizhusten. Glaub mir, das Ding ist der letzte Schrei.” “Ich gehe nicht mit der Mode, du kannst deine Geschenke wieder einpacken”, raunzte ich die Erkältung an und begab mich in die Küche, wo fünf kleine Vendittis auf das Frühstück wartete. “Darf ich mich zu euch setzen?”, fragte die Erkältung, die mir in die Küche gefolgt war. “Nein, darfst du nicht. Siehst du denn nicht, dass kein Platz mehr frei ist?”, sagte ich und von da an ignorierte ich meinen ungebetenen Gast konsequent. Sie folgte mir zur Arbeit, wich den ganzen Nachmittag nicht von meiner Seite und Abends im Konzert fütterte sie mir den Reizhusten, den sie mir mitgebracht hatte in kleinen, mundgerechten Portionen. Ich tat so, als bemerkte ich nichts von alldem und ging abends, als die Kinder im Bett waren, noch einmal zur Arbeit, nur um ihr eins auszuwischen.

Heute Morgen sass die Erkältung bereits auf meiner Bettkante, als ich die Augen aufschlug. “Du bist immer noch da?”, fragte ich verschlafen. “Ich hab’ dir doch gesagt, dass ich keine Zeit habe für dich.” “Heute schon”, entgegnete die Erkältung, “heute musst du nicht zur Arbeit.” “Heute muss ich aber putzen. Also mach, dass du fortkommst”, brummte ich. Ich versuchte, aus dem Bett zu kommen, musste aber feststellen, dass mir die Erkältung über Nacht ein weiteres Mitbringsel besorgt hatte. “Sind sie nicht toll, diese Gliederschmerzen?”, fragte die sie mit strahlendem Gesicht. “Die habe ich eigens für dich besorgt. War gar nicht so einfach, die zu bekommen, denn die will jetzt jeder haben. Aber für dich scheue ich keine Mühen. Komm, leg dich wieder hin, die grossen Kinder sind aus dem Haus und das Prinzchen schläft. Wollen wir ein wenig von den guten alten Zeiten quatschen?” “Wie oft muss ich dir noch sagen, dass ich keine Zeit habe? Ich muss putzen, verstanden?” Jetzt wurde die Erkältung richtig böse. “Ich weiss genau, wie sehr du das Putzen hasst, also versuche nicht, mir weis zu machen, dass du heute so versessen bist darauf. Du Du willst mich bloss loswerden.” “Natürlich will ich dich loswerden”, schrie ich und versuchte, mich von ihr loszureissen, doch sie packte mich an den Schultern, drückte mich ins Kissen hinein und zog mir die Decke über den Kopf. “Schlaf jetzt”, flüsterte sie, plötzlich wieder ganz sanft und liebevoll. “Das Putzen kann warten.”

Zwei Stunden später, als ich wieder wach war und mich endlich in die Kleider gezwängt hatte, sass sie fröhlich grinsend am Tisch. “So schnell wirst du mich nicht los. Wie lange kann ich bleiben?” “Du kannst nicht bleiben”, gab ich missmutig zurück. “Heute muss ich den ganzen Tag lang putzen, am Abend muss ich den Wocheneinkauf erledigen und morgen wartet ein Berg von Arbeit im Büro.” “Nie hast du Zeit für mich”, maulte die Erkältung. “Wie sieht’s übermorgen aus?” “Übermorgen? Auf gar keinen Fall. Dann gehe ich zu dem Frauentag, auf den ich mich seit mehr als einem Monat freue. Glaub bloss nicht, dass ich mir diesen Spass von dir nehmen lasse”, gab ich zur Antwort. Die Erkältung sah mich mit Mitleid erregendem Hundeblick an: “Darf ich mitkommen zum Frauentag? Ich bin ja auch ein weibliches Wesen.” “Ha! Wenn ich dich mitnehme, dann schmeissen die mich gleich wieder raus beim Frauentag. Wir Frauen können uns keine Erkältungen leisten, da werde ich doch nicht so blöd sein, dich mitzuschleppen”, ereiferte ich mich. Als ich sah, dass die Erkältung den Tränen nahe war, packte mich doch noch das Mitleid. Ist ja auch nicht schön, wenn man nirgendwo willkommen ist. “Hör mal”, sagte ich, “am Sonntagnachmittag, da hätte ich Zeit für dich. Ich schnappe mir ein paar Sonntagszeitungen, eine Tasse Tee und eine warme Decke und dann setzen wir uns aufs Sofa und reden über Gott und die Welt. Wie gefällt dir das?” Die Erkältung strahlte. “Ich hab’s doch gewusst, dass du mich magst. Lass dich umarmen!” Sie zog mich an ihre Brust, drückte mich fest an sich und einen Augenblick später lag ich mit einer Extraportion Triefnase, Brummschädel, Reizhusten und Gliederschmerzen auf dem Sofa. An Putzen war nicht mehr zu denken, aber ob Erkältung oder putzen ist eigentlich einerlei, ich kann auf beides verzichten.

Netter Besuch



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