Neil Gaiman: American Gods.

Von Lizbirk
Einer, oder ich glaube eher, es war eine, wollte neulich in den Kommentaren wissen, was eigentlich mein Lieblingsbuch sei. Dasjenige welches. The one true love. Das ist eine dieser Fragen, die mich zu tagelangem Grübeln verdammen, ohne dass am Ende ein befriedigendes Ergebnis dabei herausspringt. Daher murmele ich normalerweise etwas Unverständliches und gehe eilig weg. An diesem Tag jedoch scheint mein axt’sches Alter Ego ohne mich gewaltet zu haben, denn ich antwortete quasi sofort: American Gods von Neil Gaiman.
Aha, also American Gods. Mein Lieblingsbuch. Umso erstaunlicher, dass es hier noch nie aufgetaucht ist – eigentlich sollte es doch auf einem Thron sitzen und ein Partyhütchen tragen. Wahrscheinlich weiß es nichts davon, dass es mein Lieblingsbuch ist. Dann ändern wir das jetzt. American Gods von Neil Gaiman (den ich, wäre ich Bigamistin, immer noch heiraten würde) ist vor bald zehn Jahren erschienen. Der Roman mischt Fantasy mit klassischer und moderner Mythologie sowie amerikanischer Folklore. Ich möchte ihm aber gar nicht irgendein Genre aufzwingen – was das soll, habe ich noch nie verstanden. Sagen wir lieber, er ist eine Wundertüte voll brillanter Einfälle.
Unser Protagonist trägt den vielsagenden Namen Shadow. Shadow wird vorzeitig aus der Haft entlassen, die er für einen Raubüberfall verbüßen musste, denn seine Frau Laura ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Ihr Tod lässt ihn orientierungslos zurück. Auf dem Weg zur Beerdigung lernt Shadow den schrulligen Mr Wednesday kennen, der ihn mit nervtötender Hartnäckigkeit überzeugt, als sein Bodyguard zu arbeiten.
Zusammen reisen die beiden durch Amerika, um Bekannte und alte Weggefährten des Mr Wednesday aufzusuchen, die allesamt nicht besonders vertrauenserweckend scheinen. Gewalttätige, verrückte oder lügnerische Zeitgenossen – aber so ist das halt unter Göttern, denn als solche entpuppt sich das Pack. Wednesday selbst ist eine Inkarnation des Gottes Odin, der andere alte Götter und Helden vereinen will, um in einer großen Schlacht die neuen amerikanischen Götter zu besiegen: Die mächtigen fleischlichen Gestalten des Internets, der Massenmedien, des modernen Verkehrswesens. Das liest sich hier ein wenig pädagogisch, aber Gaiman versteht es, den neuen Göttern Schrecken einzuhauchen. Das Internet ist ein ziemlich gruseliger Geselle. 
Diese neuen Götter sind es, die den Glauben der Menschen binden und ihn von den alten Göttern abziehen. Aber ohne den Glauben werden die alten Götter schließlich ihre Bedeutung verlieren. Aussterben, wenn man so will. Odin und seine Mitstreiter können das natürlich nicht hinnehmen und fordern die modernen Gegenspieler zu einer endzeitlichen Schlacht um den Glauben der Menschheit heraus. Dass Shadow nicht zufällig da reingeraten ist, merkt er selbst zuletzt. Der ist überhaupt ein sehr interessanter Charakter, es wimmelt bei Gaiman geradezu von interessanten Charakteren. Ich möchte wissen, wo der Mann seine Ideen her nimmt. Dort würd ich nämlich auch gern mal Ferien machen.
American Gods ist ein gewaltiges, düsteres, wunderschönes, auch trauriges Buch. In etlichen Rezensionen fallen die Schlagworte „witzig“ oder „komisch“ – und obwohl ich nicht behaupten will, der Roman sei nicht witzig, denn das ist er auf seine Weise, ist es doch die Traurigkeit Shadows, die bei mir Eindruck hinterlässt. Das Gefühl von Abschied, Herbst, Melancholie prägt das Buch, ohne je ins Depressive zu kippen. Dann sind da die erwähnten komischen Momente und die messerscharfen Momentaufnahmen und die großen Strömungen – Gleichgewicht ist das Wort, das die Qualität von American Gods für mich beschreibt. Ein großes Buch, facettenreicher noch als sein ebenfalls sehr guter Nachfolger Anansi Boys, in dem wir einigen Göttern wieder begegnen. 
Ist American Gods nun mein Lieblingsbuch? Ja. Und nein. Man kann sich das so vorstellen, dass es in meinem Herzen ein Regal gibt, auf dem etwa zwei Handvoll Bücher stehen. Schlage ich eins davon auf, ist es mein Lieblingsbuch, solange ich darin lese. Serielle Monogamie, literarischer Harem, you name it. Partyhütchen inklusive.