Nazi-Morde: Der Staat und seine Opfer

Von Jacobjungblog

18.11.2011 – Zwischen September 2000 und April 2007 töten Mitglieder einer rechtsextremistischen Terrorzelle insgesamt zehn Menschen. Bei den Opfern handelt es sich um acht Männer türkischer Herkunft, einen Griechen und eine Polizistin.

Staat und Behörden verorten die Taten im privaten Umfeld der Opfer. Die Aufklärung der Mordserie ist von Ermittlungsfehlern und der bislang ungeklärten Rolle des Verfassungsschutzes gekennzeichnet.

Die Bundesregierung verweigert den Angehörigen der Opfer ihre öffentliche Anteilnahme und Entschuldigung. Bundespräsident Wulff will stattdessen hinter verschlossenen Türen ein vertrauliches Gespräch mit den Betroffenen führen.

Am Abend des 13. Novembers versammeln sich Mitglieder der Türkischen Gemeinde in Deutschland (TGD) vor dem Brandenburger Tor zu einer Mahnwache, um der Opfer zu gedenken. An der Veranstaltung beteiligen sich der Zentralrat der Juden und vereinzelte Politiker. Offizielle Vertreter der Bundesregierung bleiben der Mahnwache fern.

Am 14. November äußert sich Außenminister Westerwelle zu den extremistischen Mordanschlägen. „Das ist nicht nur furchtbar für die Opfer, das ist nicht nur schlimm für unser Land, es ist vor allen Dingen auch sehr, sehr schlimm für das Ansehen unseres Landes in der Welt“ sagt er am Rande eines Treffens der EU-Außenminister in Brüssel.

Während des CDU-Parteitags in Leipzig setzt sich Bundestagspräsident Norbert Lammert gegenüber Angela Merkel für eine angemessene Trauerbekundung ein. Zu einer Gedenkstunde im Parlament oder einer öffentlichen Trauerfeier kann man sich jedoch nicht durchringen.

Kenan Kolat, der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland, fordert eine Entschuldigung der Verantwortlichen, die im Hinblick auf die Mordanschläge sofort jeglichen Bezug zur Fremdenfeindlichkeit ausgeschlossen haben. Er wundert sich darüber, dass Angela Merkel noch keine „Worte der Anteilnahme“ gefunden hat und drängt darauf, den Angehörigen der Opfer zu einem angemessenen Rahmen für ihre Trauer zu verhelfen.

Sorge um den guten Ruf

Für Guido Westerwelle wiegt die Außenwirkung der Taten schwer: „Furchtbar“ sind die Mordanschläge für die Opfer aber „vor allen Dingen“ sind sie „sehr, sehr schlimm“ für das Ansehen Deutschlands. Die Angehörigen der Ermordeten erwähnt der Außenminister in diesem Zusammenhang nicht.

Tatsächlich zeigt man sich im Ausland konsterniert über die Nazimorde und den offiziellen Umgang mit den Opfern, den Angehörigen und den Tätern. So fragt die spanische Tageszeitung „El Pais“, wie es sein könne, dass eine Gruppe von Neonazis die deutsche Justiz 13 Jahre lang an Nase habe herumführen können – in einem Land, „wo es selbst für das Radfahren ohne Licht Strafen gibt“. Das türkische Außenministerium erwartet die lückenlose Aufklärung der Morde und fordert von Deutschland, alles zu tun, um „radikale Strömungen“ einzudämmen.

Die Regierung befürchtet, eine parlamentarische Gedenkstunde könne den Eindruck der Geschlossenheit des Bundestages in Frage stellen. Weil die Fraktionen ihre unterschiedlichen Vorstellungen im Parlament zu deutlich betonen könnten, soll nun Bundespräsident Wulff die Angehörigen der Opfer stattdessen zu einer vertraulichen Gesprächsrunde im Schloss Bellevue empfangen. Vorbereitende Gespräche hierzu werden bereits geführt.

Bedenklicher Sprachgebrauch

Seit 2000 sind die Angehörigen einem unangemessenen und respektlosen Umgang mit den Taten ausgesetzt. Die Bezeichnung „Döner-Morde“, der Name der polizeilichen Sonderkommission „Bosporus“, der Verweis auf die sogenannte „Halbmond-Mafia“: Behörden, Medien und Politik haben durch einen bedenklichen Sprachgebrauch von Beginn an suggeriert, es handle sich um Taten, bei denen sich „Ausländer“ gegenseitig umbringen.

Als Motive werden hierbei immer wieder angebliche Verstrickungen der Opfer in das Glücksspiel-, Waffen- oder Wettmilieu ins Spiel gebracht. Die Ermittler konzentrierten sich vor allem auf persönliche Bezüge zwischen den Ermordeten und forderten wiederholt die in Deutschland lebenden Türken zur Mithilfe bei der Aufklärung auf. Rechtsextreme Motive werden dabei bereits frühzeitig ausgeschlossen. Die Sonderkommission „Bosporus“ wird nach knapp dreijähriger Tätigkeit im Februar 2008 aufgelöst. Abschließend teilte ihr Leiter Wolfgang Geier mit, dass entweder ein einzelner Mörder mit privaten Motiven oder eine kriminelle Vereinigung hinter den Taten stecke.

Die Opfer kannten sich untereinander nicht. Es gab von Beginn an keine Hinweise auf signifikante Parallelen oder Gemeinsamkeiten in Bezug auf die Biografien oder Lebensgewohnheiten. Und es wurde bei allen Morden dieselbe Tatwaffe verwendet. Alleine aus diesen Erkenntnissen und der Tatsache, dass es sich bei den Ermordeten, mit Ausnahme der getöteten Polizistin, um Deutsche mit ausländischen Wurzeln handelt, hätte sich der Verdacht ableiten müssen, dass man es mit hoher Wahrscheinlichkeit mit einer rechtsextremistisch motivierten Mordserie zu tun hat.

Im Mai 2006 wurde auf der Innenministerkonferenz von Bund und Ländern darüber verhandelt, die Aufklärung der Mordserie an das Bundeskriminalamt zu übertragen und damit höher zu priorisieren. Der damalige bayerische Innenminister Günther Beckstein (CSU) setzte sich dafür ein, den „Fall“ bei der bayerischen Polizei zu belassen und konnte sich mit dieser Auffassung letztlich durchsetzen.

Mindestens 147 Todesopfer rechter Gewalt

Die Zuständigkeit für die Mordserie fällt auf Bundesebene unter verschiedenen Gesichtspunkten in das Ressort von Innenminister Hans-Peter Friedrich. Das Innenministerium zeichnet unter anderem für die Bereiche Kriminalitätsbekämpfung, innere Sicherheit, Verfassungsschutz, Extremismus, nationale Minderheiten und Integration verantwortlich.

Bislang hat Friedrich gegenüber den Angehörigen der Opfer keine Worte der Anteilnahme oder der Entschuldigung gefunden. Stattdessen setzt er sich für strengere Kontroll- und Sicherheitsmaßnahmen ein. Noch am 13. November spricht der Minister gegenüber der Tagesschau selber öffentlich von den „Döner-Morden“. Gleichzeitig betont er, der Staat habe die rechte Szene fest im Griff.

Der Innenminister drängt jetzt auf die Einrichtung einer zentralen Verbunddatei, in der Polizei und Verfassungsschutz aus Bund und Ländern Informationen über gewaltbereite Rechtsextremisten sammeln sollen. Was in diesem Zusammenhang verschwiegen wird: Das BKA führt bereits seit Januar 2001 zwei dieser Datenbanken. Eine Verbunddatei unter der Bezeichnung „Gewalttäter rechts“ enthielt zum 1. Oktober 2011 insgesamt 1.013 entsprechende Datensätze. Die Zentraldatei „PMK-rechts-Z“ (Politisch motivierte Kriminalität rechts – Zentralstelle) umfasste zum selben Datum 610 Datensätze.

Es ist nicht erkennbar, ob Hans-Peter Friedrich die Existenz der beiden Datenbanken vor der Öffentlichkeit verheimlicht oder ob er selber nicht weiß, dass diese Daten bereits seit mehr als zehn Jahren erhoben und gesammelt werden. Die vergleichsweise geringe Anzahl von Datensätzen (1.623) wirft dabei weitere Fragen auf. Der Verfassungsschutz beziffert in seinem aktuellen Bericht 25.000 Rechtsextremisten in Deutschland, von denen rund 9.500 als gewaltbereit eingestuft werden. Lediglich 17 Prozent der potenziellen Täter wurden bislang in den Datenbanken des BKA erfasst.

Auf dem rechten Auge blind?

Vor dem Hintergrund des allgemeinen Umgangs des Staates mit rechtsradikalen Straftaten in Deutschland, dem umstrittenen Einsatz von V-Leuten innerhalb der NPD und anderen rechtsextremen Organisationen und der starken Betonung der Gefahr durch islamistischen oder linksextremen Terror, stellt sich sowohl im Inland als auch im Ausland immer deutlicher die Frage, ob deutsche Behörden, Ermittler und Politiker „auf dem rechten Auge blind sind“.

Ein deutliches Zeichen für die Vernachlässigung entsprechender Taten sind die offiziellen Zahlen zu den Todesopfern rechter Gewalt. Die Bundesregierung und ihre Behörden zählen im Zeitraum zwischen 1990 und 2010 insgesamt 47 Todesopfer rechts motivierter Gewalttaten. Auf die Zeit zwischen 2000 und 2010 entfallen hierbei fünf solcher Taten.

Eine gemeinsame Recherche von „ZEIT“ und „Tagesspiegel“ kommt im Jahr 2010 zu völlig anderen Ergebnissen. Die Redakteure konnten zwischen 1990 und 2010 insgesamt 137 Fälle ermitteln, in denen Menschen in Deutschland ihr Leben infolge rechter Gewalt verloren. Zwischen 2000 und 2010 zählt die Untersuchung alleine 31 Tötungsdelikte, ohne hierbei die Morde der Zwickauer Terrorzelle zu berücksichtigen.

Rechnet man diese Taten zu den Ergebnissen von „ZEIT“ und „Tagesspiegel“ hinzu, dann ergeben sich in den letzten zehn Jahren 41 Todesopfer rechtsmotivierter Gewalttaten, während die Bundesregierung fälschlicherweise von fünf Opfern ausgeht.

Der Politikwissenschaftler Hans-Gerd Jaschke ist Professor an der Hochschule für Wirtschaft und Recht (HWR) in Berlin und leitete von 2002 bis 2007 den Fachbereich Rechts- und Sozialwissenschaften an der Deutschen Hochschule der Polizei in Münster. In dem ARD Magazin FAKT merkt er am 15. November 2011 an, dass in Deutschland alleine in den 90er Jahren 100 Todesopfer rechtsextremer Gewalt zu beklagen sind:

„Das ist in der Bilanz natürlich ein Vielfaches der Opferzahlen der RAF und auch sehr viel mehr als seitens der islamistisch bedingten Gewalt.“

Martin Jander unterrichtet in den Berlin-Programmen der New York University und der Stanford University sowie an der Universität Köln. In einem Interview mit der Tagesschau vom 12.10.2011 sagt der Historiker und Politikwissenschaftler über terroristische Bestrebungen in Deutschland:

„Zwischen links und rechts gibt es einen wesentlichen Unterschied: Seit dem 3. Oktober 1990 hat es rund 150 Todesopfer von rechtsradikal motivierten Straftaten gegeben. Sie wurden totgeprügelt, verbrannt, und anderes. Auf der linken Seite gibt es Auseinandersetzungen mit Polizisten, es gibt in Berlin diese Truppe, die Autos anzündet. Aber Todesopfer durch linke Gewalt gab es in den vergangenen 20 Jahren meines Wissens nach nicht.“

Geht man davon aus, dass die staatliche Bekämpfung linker und islamistischer Gewalt in Deutschland richtig und angemessen ist, dann kommt man, alleine unter Berücksichtigung der konkreten Opferzahlen, nicht umhin, in Bezug auf die Bekämpfung der rechtsextremistischen Gewalt ein deutliches Defizit zu erkennen. Dieses Defizit als „Blindheit auf dem rechten Auge“ zu bezeichnen, ist also angemessen.

Vertrauliche Gesprächsrund im Schloss Bellevue

Die Politik in Deutschland spielt die Gefahren des rechtsextremistischen Terrors seit Jahren konsequent herunter. In den offiziellen Statistiken wird nur ein Bruchteil der tatsächlichen Opfer rechter Gewalt erfasst, Zentral- und Verbunddateien des BKA enthalten lediglich eine kleine Zahl rechter Gewalttäter. Die Rolle des Verfassungsschutzes und seiner V-Leute in der rechten Szene ist umstritten. Im Rahmen eines NPD-Verbotsverfahrens sieht sich das Bundesverfassungsgericht 2003 nicht in der Lage, zu beurteilen, welche Positionen und Statements tatsächlich von reinen Parteimitgliedern und welche von V-Leuten des Verfassungsschutzes stammen und stellt das Verfahren deshalb schließlich ein. Gleichzeitig beziehen NPD und andere rechte Organisationen einen Teil ihrer Finanzierung aus den Honoraren, die der Staat an die V-Leute bezahlt.

Obwohl die tatsächliche Gefährdung durch rechtsextremistischen Terror mittlerweile für jeden offenkundig geworden ist, verweigern die Bundesregierung und ihre Vertreter den Angehörigen der Opfer ihre Anteilnahme und ihre Entschuldigung. Stattdessen instrumentalisieren sie die Morde und nutzen sie zu parteipolitischen Zwecken, zur persönlichen Profilierung oder als Argument für eine Ausdehnung der Kontroll- und Überwachungsmaßnahmen des Staates.

Bundespräsident Wulff plant, sich hinter verschlossenen Türen mit den Angehörigen der Opfer treffen. Selbst jetzt will der Staat den Umgang mit Rechtsextremismus so leise und unauffällig gestalten, wie nur möglich.

Mitgefühl und Anteilnahme

Durch den unterschiedlichen Umgang mit den verschiedenen Formen des Terrors erweckt der Staat den Eindruck, als würde er den jeweiligen Opfern einen unterschiedlichen Wert beimessen.

Rechtsextremistische Anschläge zielen meist auf Menschen mit ausländischen Wurzeln, auf Juden, auf Linke oder auf Homosexuelle. Hält sich hier nicht nur die Empathie der Regierung oder ihrer Behörden sondern auch das Mitgefühl breiter Bevölkerungsschichten in Grenzen? Bei den potenziellen Zielen von Linksextremisten und islamistischem Terror handelt es sich dagegen um die Machtzentren des Staates, um Regierungsmitglieder und Funktionsträger oder doch zumindest um öffentliche Gebäude und die Fahrzeuge von Mittelstand und Oberschicht.

Wir alle müssen Sorge dafür tragen, dass sich Vergleichbares in der Zukunft nicht wiederholen kann. Hierzu gehört vor allem, die Opfer und ihre Angehörigen in den Mittelpunkt zu stellen. Wir müssen uns selber und der Welt zeigen, dass wir Mitgefühl und Trauer empfinden, wenn in unserem Land Menschen von extremistischen Tätern ermordet werden.

Als ein rechtsradikaler Terrorist im Sommer diesen Jahres in Oslo 77 Menschen tötet, reagiert die norwegische Regierung mit Bestürzung, Trauer und Anteilnahme. Ihr Aufruf an die eigene Bevölkerung und die internationale Gemeinschaft: Dem Rechtsextremismus mit noch mehr Demokratie und noch mehr Toleranz mutig zu begegnen.

Hieran sollte sich die deutsche Regierung ein Beispiel nehmen.

Dieser Artikel ist vorab im Humanisten Pressdienst (hpd) erschienen.