[Erstveröffentlichung: 08. Januar 2010]
Kermani legt großen Wert darauf, begreiflich zu machen, dass dieses „wir“ eben und gerade auch den – inzwischen relativ großen – Teil der deutschen Bevölkerung beinhaltet, der sich zum Islam bekennt oder aber seine kulturellen Wurzeln in einem Land hat, das von uns als „islamisch“ deklariert wird. Denn Deutschland ist, wenn auch nicht gänzlich unbemerkt so doch kaum öffentlich wahrgenommen, zu einem Einwanderungsland geworden. Mit allen sich daraus ergebenen Problemen und Chancen.
Von Beginn an stellt Navid Kermani klar, dass er gläubiger Muslim ist. Er berichtet über seine Kindheit und seine Familie, für die der Glaube zwar immer auch Teil des kulturellen Lebens war, aber nie den abgrenzenden und definierenden Wert hatte, der der Religion heute zugeschrieben wird. Kermani sagt, dass er zwar Muslim sei, aber eben auch Ehemann, Deutscher, Schriftsteller oder einfach nur: Mensch. Er verwehrt sich gegen jedes Schubladendenken und jegliche Bewertung allein aufgrund von religiösen Überzeugungen. Daher ist für ihn „Wer ist wir?“ eigentlich eine falsche Frage. Denn Menschen sind nicht nur dies oder jenes; sondern komplexe Wesen in einer komplexen Umwelt. Und daher nicht aufgrund einer alleinigen Zuschreibung zu definieren.
Andererseits stellt der Autor die Frage danach, weshalb selbst Migranten der dritten oder gar vierten Generation sich immer mehr von der Gesellschaft abgrenzen. Kermani stellt dazu fest:
Es ist der Eindruck, niemals dazugehören zu können – niemals gemeint zu sein, wenn ein Staatsführer oder Fernsehkommentator ‚wir‘ sagt. (S. 88)
und schlussfolgert daraus, dass, wenn die Gesellschaft die Integration der muslimischen (aber auch aller anderen) Migranten erreichen möchte, sie dies auch ermöglichen muss. Deshalb ist das Buch vor allem ein Plädoyer dafür, sich gegenseitig erst einmal kennenzulernen; zu verstehen, wie der „Andere“ denkt, fühlt und leben möchte.
Und anders als Arikan und Ham stellt sich Navid Kermani auch den Fragen, die sich im öffentlichen Diskurs des Westens immer wieder stellen: wie verhält sich der Islam zum ihm zugeschriebenen Terror? Wie kompatibel ist er mit den universellen Menschenrechten? Und weshalb erstarkt innerhalb des Islam der Fundamentalismus zu einer Zeit, da die technische Entwicklung weltweit in immer stärkerem Maße von der Menschheit verlangt, global zu denken und zu handeln. Hier bestätigt er auch meine eigenen Überlegungen; dass nämlich durch die Globalisierung der Mensch sich immer kleiner, immer ungeschützter und verlorener vorkommt. Wir Menschen sind – meiner Meinung nach – evolutionär noch immer nur in der Lage, in und von Menschengruppen von der Größe eines Stammes zu denken. Das globale Dorf überfordert uns ganz einfach. Anders ist auch kaum zu begreifen, dass unsere Spiegelneuronen regieren, wenn wir des Nachbars Hund heulen hören und gleichfalls relativ unbeeindruckt die Nachricht von tausendfachem Sterben auf fernen Kontinenten ertragen können. Navid Kermani schreibt:
Fundamentalistische Lebensentwürfe sind attraktiv, weil sie die Menschen mit dem versorgen, was ihnen in der modernen, globalisierten Welt am meisten fehlt: Eindeutigkeit, verbindliche Regeln, feste Zugehörigkeiten – eine Identität. (S. 15)
Ein – wie irrationaler auch immer – Wertekanon kann Halt geben. Einen Halt, den die Gesellschaft offensichtlich nicht bieten kann. (Vgl. auch Peter Boldt‘s Thesen in „Zur Evolution des Glaubens und der Ethik“)
Daraus entwickelt er die Frage: wie zugehörig kann sich ein muslimischer Migrant in Deutschland fühlen? Kann sich überhaupt so etwas wie eine muslimisch-deutschen Identität herausbilden? Kermani bejaht diese Frage uneingeschränkt.
Gerade weil die europäischen Werte säkular sind, sind sie an keine bestimmte Herkunft oder Religion gebunden, sondern lassen sich prinzipiell übertragen. (S. 137)
Und genau deshalb ist er der Auffassung, dass eine Integration in die westliche Gesellschaft sehr wohl möglich ist. (Im Umkehrschluss wäre daraus streng religiösen Ländern zu unterstellen, eine Integration unmöglich zu machen. Woraus wiederum der Schluss zu ziehen wäre, dass sich Bischof Meisner freuen sollte, in einen halbwegs säkularen Staat zu leben.)
Dabei geht Kermani aber von der Grundthese aus, dass es überhaupt keiner Diskussion darüber bedarf, ob und welcher Religion ein Mensch anhängt, sondern dass es der Gesellschaft in ihrer Gesamtheit nur darum gehen kann, ob die Grundrechte jedem Menschen zugestanden werden und ob jeder Mensch auch die Pflichten, die sich daraus ergeben, auf sich nimmt. Wenn dem religiöse Vorstellungen entgegenstehen, hat jegliche Religion hinter dem Allgemeininteresse zurückzustehen.
Kermani – und das finde ich sehr beachtenswert – lässt sich an keiner Stelle des Buches dazu hinreißen, eine Wertung der westlichen, der christlichen Religion als Gegenüberstellung zum Islam vorzunehmen. Der Schuster bleibt bei seinen Leisten, selbst wenn er mit seinen Glaubensgenossen hart zu Gericht geht
Ja, es gibt ein Feindbild Islam. Aber die Muslime sollte es mehr beunruhigen, dass es einen Islam gibt, der sich als Feind gebärdet. (S. 40)
Allerdings belässt er es nicht dabei. Sondern appelliert auch an die Gesellschaft und erinnert daran
… was immer über oder gegen den Islam geschrieben wird, bei allen schrillen Tönen – in der Gesellschaft funktioniert das Zusammenleben weitaus besser, ist die Toleranz gegenüber Muslimen weitaus größer, als es in der medialen Wirklichkeit erscheint. (S. 54)
Damit stimmt er dem Eindruck, den ich habe und auf den auch die bereits erwähnten Autoren Arikan und Ham hinweisen, zu. Der Islam ist längst in der Mitte unserer Gesellschaft – in den Großstädten zumal – angekommen.
Deshalb gilt es darüber nachzudenken, ob die Grenzen, die wir oft setzen, reale Grenzen sind. Kermani meint, dass der reale Konflikt innerhalb der islamischen Welt ausgetragen wird (Stichwort: aufgeklärter Islam), wobei natürlich auch das Verhältnis zum Westen gewertet wird. Aber der Riss, so man denn davon reden kann, trennt nicht die Religionen oder Wertvorstellungen, es ist keine Grenze zwischen „dem Islam“ und „dem Westen“ – was es beides nach Kermanis Verständnis so vereinfacht nicht gibt. Es ist ein Riss, der durch die gesamte menschliche Gesellschaft geht; ein Riss entlang einer eher sozialen Linie denn einer religiösen/ideologischen. So meint er, dass ihm jeder Großstadt-Mensch, egal wo auf der Welt, näher und verständlicher ist als selbst ein Muslim, der vom Lande und ungebildet ist.
Er fragt sich und den Leser, weshalb es in diesem Land so schwierig zu sein scheint, den Islam zu integrieren – sprich: Muslime zu integrieren. Dabei schreibt er einen bemerkenswerten Satz:
Eine spezifisch deutsche Schwierigkeit für die Einbürgerung des Islams besteht darin, dass das Verhältnis von Staat und Religion in Deutschland komplizierter ist als in vielen anderen Ländern Europas. Der deutsche Staat ist nicht laizistisch. Das erschwert eine strikte Gleichbehandlung und macht es einer neuen Religion schwerer, ihren Platz zu finden. (S. 151/152)
Aber er gibt auch uns Säkularen etwas Nachdenkenswertes mit auf den Weg wenn er sagt:
Die weltweite Rückkehr der Religionen, die hierzulande annonciert wird, ist in Wirklichkeit die Entdeckung, dass Religionen außerhalb Westeuropas niemals verschwunden waren. (S. 33)
und verweist dabei zum Beispiel auf das Nachbarland Polen.
Obwohl das Buch nur einen Umfang von etwa 170 Seiten hat, deckt es ein großes Spektrum an Themen ab die sich alle um die Frage nach dem „Wir“ der Muslime in unserer Mitte drehen. Ich habe mir sehr sehr viele Zitate aus dem Buch notiert. Es würde aber den Rahmen der Rezension sprengen, diese alle hier anzubringen und zu kommentieren. Daher kann ich nur dringend empfehlen, sich dieses Buch zu besorgen und zu lesen.
Meiner Meinung nach ist Navid Kermani einer der besten deutschsprachige Islam-Wissenschaftler, der verständlichste ist er in jedem Falle. Und seine Stimme sollte nicht ungehört verhallen. Nicht, wenn wir diese Gesellschaft verstehen und verändern wollen.
Nic