Naomi Alderman - The Power
2012 wurde die aufstrebende britische Autorin Naomi Alderman für das Mentorenprogramm der Rolex Arts Initiative ausgewählt und ein Jahr lang von der preisgekrönten kanadischen Schriftstellerin Margaret Atwood betreut. Damals hatte Alderman gerade ihren dritten Roman veröffentlicht und steckte mitten in der Konzeption ihres nächsten Buches. Atwood und Alderman verbrachten viel Zeit miteinander. Sie begannen, eine gemeinsame Kurzgeschichte über Zombies zu schreiben, die online veröffentlicht werden sollte. Den Anstoß hierfür lieferte Atwood, inspiriert von Aldermans zweiter Karriere als Spieldesignerin der populären Fitness-App Zombies, Run!. Parallel unterstützte sie ihren Protegé bei ihrem neuen Projekt. Das Ergebnis ihrer intensiven Zusammenarbeit waren „The Happy Zombie Sunrise Home" und, 3 Jahre nach Abschluss des Mentorenprogramms, der Science-Fiction Roman „The Power".
Es geschieht über Nacht. Die Revolution beginnt mit dem elektrischen Knistern an den Fingerspitzen eines jungen Mädchens. Es breitet sich aus, rasend schnell. Überall erwacht die Gabe der Frauen und verleiht ihnen Macht. Die Macht, zu verletzen. Die Macht, zu töten. Die Welt verändert sich. Die Ära der Frauen ist angebrochen. Stück für Stück erobern sie, was ihnen zusteht. Notfalls mit Gewalt. Doch wie viel weibliche Macht kann die Welt ertragen?
Hattet ihr schon einmal den Gedanken, dass die Welt ein besserer Ort wäre, wenn Frauen „an der Macht" wären? Ich schon. Oft sogar. Zahllose Male habe ich davon geträumt, wie paradiesisch, gerecht und harmonisch die Erde sein könnte, hätten Frauen mehr zu sagen. Weltfrieden. Love is in the air. Kätzchen und Kuchen für alle.
Bullshit. Diese Idee ist ein Märchen. Nach der Lektüre von„The Power" von Naomi Alderman werde ich nie wieder daran glauben, dass Frauen die Welt anders regieren würden als Männer. Es handelt sich dabei um einen bodenlos sexistischen Wunschtraum, der sich aus der Sehnsucht nach einer besseren Welt speist. Ich schäme mich ein bisschen, weil ich im Gegensatz zur Autorin nicht erkannte, dass eine Verschiebung des Machtgefüges nicht das Geringste am Wesen der Menschheit ändern würde. Sie hat mir die Augen geöffnet. Dieses Buch war eine Offenbarung.
Naomi Alderman hinterfragt mutig, ob die patriarchalische Dominanz in unserer Gesellschaft tatsächlich die Wurzel allen Übels ist. Schonungslos porträtiert sie eine unangenehm vorstellbare, glaubwürdige alternative Realität, in der Frauen durch die plausibel gestaltete Gabe der Elektrizität plötzlich zum überlegenen Geschlecht werden. Männer sind nicht das Problem. Das Problem ist die Bereitschaft einiger Menschen, ihre Machtpositionen aggressiv und skrupellos auszunutzen, unabhängig vom Geschlecht. Alderman illustriert diese Botschaft durch eine exzellente Mischung aus vier greifbaren Perspektiven. Sie beleuchtet exakt die gesellschaftlichen Zweige, die über den Einfluss verfügen, die Welt zu verändern: Religion, Politik, Wirtschaft und Journalismus. Diese Blickwinkel gestatten ihr eine facettenreiche Betrachtung der veränderten Situation. Die Leser_innen erleben Revolten, politische Umstrukturierungen und das Erstarken eines neuen Glaubens. Sie lernen die wirtschaftlichen Möglichkeiten der Gabe kennen und bezeugen den männlichen Kontrollverlust. Vielfältige, widerstreitende Emotionen bringen das globale Gleichgewicht ins Wanken. Eine scheinbar neue Ordnung entfaltet sich. Neben der intellektuellen Brillanz von„The Power" bewundere ich vor allem Naomi Aldermans geschickte Steuerung meiner intuitiven Resonanz. Zu Beginn der Geschichte begeisterte mich das weltweite Erwachen der Frauen. Ich feierte die befreienden Revolutionen in Ländern wie Saudi-Arabien und der Republik Moldau, die Bemühungen, Frauen im Gebrauch ihrer Gabe zu schulen und die Geburt einer neuen Gesellschaftsordnung, für die ich bereit war, Opfer als Kollateralschäden in Kauf zu nehmen. Ich war euphorisch, sehnsuchtsvoll und fantasierte sogar selbst von der Gabe, bis ich meinte, ein elektrisches Kitzeln in meinen Fingerspitzen spüren zu können. Mit Fortschreiten der Handlung und dem Ticken eines mysteriösen Countdowns, der das Buch in Abschnitte unterteilt, beschlich mich jedoch ein Gefühl von Beklemmung. Der Weltfrieden blieb aus. Ich begann zu begreifen, dass Frauen nicht die erhoffte Wende bringen, sondern die Rolle der Aggressoren übernehmen würden. Ich durchlebte eine graduelle Desillusionierung. Diese Erfahrung war äußerst demoralisierend, in ihrer Ehrlichkeit aber unverzichtbar. Die Wahrheit tut weh - doch ich musste die Eskalation weiblicher Gewaltbereitschaft sehen, um mich von meinen romantisierten, idealisierten Vorstellungen weiblicher Dominanz als Allheilmittel globaler Konflikte verabschieden zu können. Naomi Alderman lässt keinen Zweifel aufkommen: Frauen sind ebenso fähig, die Welt in Flammen aufgehen zu lassen, wie Männer.
Sind Frauen bessere Menschen? Sind wir harmonieliebender, friedvoller, vernünftiger? Oder erscheinen wir zahmer, weil uns die Evolution lehrte, die demonstrative Zurschaustellung von Unterlegenheit zu nutzen, um unser Überleben zu sichern, wie es im Tierreich millionenfach zu finden ist? Wieso sollte es beim Tier „Mensch" anders sein? „The Power" demaskiert eine bittere Wahrheit: Frauen sind keineswegs weniger machtgierig, destruktiv und aggressiv als Männer. Trotz dessen ist Naomi Aldermans Roman hochgradig feministisch. Feminismus bedeutet, ein Gleichgewicht der Geschlechter anzustreben. Deshalb ist Alderman weder eine Männerhasserin, noch eine Geschlechtsverräterin.
Für mich war„The Power" eine überaus lohnende Lektüre. Naomi Alderman korrigierte mein Denken sanft durch eine packende Geschichte, die mich sowohl intellektuell als auch emotional beeindruckte und aufrüttelte. Meiner Ansicht nach ist es ein wichtiges, niveauvolles und spektakuläres Buch. Lest es.