Dürrenhorn, Hohberghorn, Stecknadelhorn & Nadelhorn – vier Walliser 4.000er, verbunden durch einen vier Kilometer langen Grat.
Die Landschaft um uns färbt sich langsam von schwarz zu blau. Am Horizont erkenne ich die scharfe Silhouette der Berner Alpen. Seit drei Stunden tasten wir uns durch die sternenklare Nacht. Wir befinden uns im Zustieg zum Nadelgrat. Oder sind wir schon drauf? Links und rechts von mir spüre ich eine unheimliche Tiefe. Unsere Stirnlampen leuchten nur einen kleinen Teil des schmalen Felsgrates vor uns aus. Die Ungewissheit, wo genau wir uns gerade befinden und das mulmige Gefühl, nicht zu wissen, was neben mir ist, verstärkt die Sehnsucht nach dem Tagesanbruch.
Meine Uhr zeigt eine Höhe von 3.600 Metern an. Das Galenjoch – die Scharte von der aus wir den Nadelgrat ersteigen wollen – haben wir bereits ein gutes Stück hinter uns gelassen. Wir befinden uns also schon auf dem Teil des Grates, der in der Führerliteratur als Nadelgrat beschrieben wird.
Der Nadelgrat, das ist eine vier Kilometer lange Perfektion aus Gneis, Schnee und Eis. Er verbindet mit dem Dürrenhorn. Hohberghorn, Stecknadelhorn und dem Nadelhorn gleich vier 4.000er und zählt damit zu den spektakulärsten Grattouren der Walliser Alpen.
Die Länge der Tour, die anhaltenden Kletterschwierigkeiten bis zum III. Grad, die Höhe und die Ausgesetztheit machen den Nadelgrat körperlich, aber auch mental sehr fordernd.
Fakten: Nadelgrat ab Bordierhütte via Galenjoch
- Talort: Gasenried im Wallis
- Stützpunkt: Bordierhütte
- Zustieg Bodierhütte: 1.300 Höhenmeter, 8,5 km, ca. 2,5-3,5 Stunden
- Anstieg Gipfeltag: 2.100 Höhenmeter
- Abstieg Gipfeltag: 3.400 Höhenmeter
- Länge Gipfeltag: 22 Kilometer
- Route: Bordierhütte (2.900 m) > Galenjoch > Chli Dirruhorn (3.890 m) > Selle Joch > Dürrenhorn (4.035 m) > Dirrujoch > Hohberghorn (4.219 m) > Hohbärgjoch > Stecknadelhorn (4.241 m) > Stecknadeljoch > Nadelhorn (4.327 m) > Windjoch > Ulrichshorn (3.925 m) > Riedgletscher > Bordierhütte > Gasenried (1.650 m)
- Charakter: lange, hochalpine und teils ausgesetzte Grattour mit anhaltenden Kletterstellen bis III. Konditionell äußerst fordernd, da man sich lange auf über 4.000 Metern aufhält.
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Die Suche nach der Nadel im Heuhaufen
Wer die vier 4.000er über den Nadelgrat überschreiten will, dem stehen einige Möglichkeiten offen. Als Ausgangspunkte kommen die Bordierhütte oder die Mischabelhütte infrage. Die Verhältnisse am Grat und die Möglichkeiten, überhaupt dorthin zu gelangen, sind stark von der Schneelage abhängig. Früh in der Saison und wenn noch ausreichend Schnee liegt, wird der Nadelgrat für gewöhnlich über das Selle Couloir erstiegen. Die Selle ist eine etwa 50° steile Schneerinne, die nördlich des Dürrenhorns vom Riedgletscher auf den Grat hinaufzieht.
Eine weitere Option ist der Zustieg zum Grat von der Bordierhütte über das Galenjoch. Dann verlängert sich die Kletterei am Grat um etwa eineinhalb Kilometer, da man früher und weiter nördlich auf den Nadelgrat gelangt und einige weitere Vorgipfel erklettern darf. Dafür erspart man sich den mühsamen Zustieg über den Gletscher. Idealerweise steigt man am Ende vom Nadelhorn Richtung Saas Fee zur Mischabelhütte ab und hängt am nächsten Tag noch die Lenzspitze dran.
Die Entscheidung, welchen Weg wir gehen, wird uns abgenommen. Auf der Mischabelhütte ist kein Platz mehr frei und das Selle-Couloir ist bereits schneefrei und nicht mehr sicher begehbar. Bleibt noch die längste, aber uns liebste und ehrlichste Variante, den Nadelgrat anzugehen: von der Bordierhütte werden wir über das Galenjoch auf den Nadelgrat gelangen, die vier 4.000er überschreiten und am selben Tag über die Bordierhütte nach Gasenried absteigen.
Zustieg: von Gasenried zur Bordierhütte
Es ist ein wunderschöner Weg, der uns an diesem Freitagnachmittag bevorsteht. 1.300 Höhenmeter und 8 Kilometer lang dürfen wir uns nach der langen Anreise aus Österreich die Beine vertreten. Unser Auto haben wir am öffentlichen Parkplatz in Gasenried abgestellt. Fünf Stellplätze sind dort für die Gäste der Bordierhütte reserviert.
Vom Parkplatz folgen wir ein gutes Stück der asphaltierten Straße bis ans Ortsende, bevor sie in einen Forstweg und später in einen Steig übergeht. Die Wegweiser lotsen uns in vielen Serpentinen durch einen dichten Lärchenwald.
An einem flachen Almboden führt uns ein Brückchen über den Gletscherbach und wir steigen am rechten Rand der Moräne weiter auf. Walliser Schwarznasenschafe begleiten uns ein Stück des Wegs, bis wir kurz vor Hütte von der Moräne in das Gletscherbecken absteigen, um die flache Zunge zu queren.
Der Weg über den Gletscher ist mit reflektierenden Stangen markiert und wenig spaltenreich. Weil das Eis griffig und von Schutt überzogen ist, verzichten wir auf Steigeisen. Wie die meisten Alpengletscher ist auch der Riedgletscher in den vergangenen Jahrzehnten stark geschrumpft. Zur Hütte hinauf steht uns deshalb noch ein Gegenanstieg von 100 Höhenmetern bevor. Über Stufen, glattgeschliffenen Fels und seilversicherte Passagen steigen wir aus dem schattigen Becken zurück in die Abendsonne.
Wir erreichen die Bordierhütte nach zweieinhalb Stunden mit den letzten Sonnenstrahlen des Tages pünktlich zum Abendessen. Ein weiches Licht, wie es nur am Ende eines warmen Sommertages vorkommt, hat sich über das Tal gelegt.
Nadelgrat Bordierhütte Galenjoch
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Die kleine Steinhütte fügt sich perfekt in die hochalpine Landschaft ein. Unsere durchgeschwitzten Shirts und Schuhe können wir auf der warmen Felsmauer trocknen. Von der Hüttenmannschaft werden wir herzlich begrüßt und gut bekocht. Die kleine Stube ist bis auf den letzten Platz gefüllt.
Nadelgrat Bordierhütte Galenjoch
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Trotzdem sind wir die letzten, die den Frühstückstisch verlassen und um 3 Uhr nachts vor der Hütte die Stirnlampen anknipsen. Meine GPS-Uhr kündigt den Sonnenaufgang gegen halb 7 an. Die Finsternis wird uns also einige Zeit gefangen halten.
Von der Hütte steigen wir das letzte Stück des Zustiegs von gestern wieder zurück. Es ist gut, dass wir den Weg bereits kennen. Denn im Gletscherbecken hüllt uns Nebel ein und macht die Orientierung mühsam. Trotz starker Stirnlampen sehen wir nur wenige Meter weit.
Katzenaugen weisen uns den Weg vom Gletscherbecken heraus zum Galenjoch. Weit über uns im Gegenhang flackern ab und an die Stirnlampen der anderen Seilschaften auf. Über blockiges Gelände steigen wir über den Moränenrand hinaus und gelangen bald auf einen kleinen Steig. Auf ihm schrauben wir uns über eine steile Grasflanke höher.
Sind wir schon am Nadelgrat?
Wir reden wenig. Müde und etwas angespannt trottet jeder für sich durch die Dunkelheit. Immer noch hüllt uns dicker Nebel ein. Es ist windstill und die Luft ist schwer und warm. Nach wenigen Hundert Höhenmetern sind wir bereits gut durchgeschwitzt.
Wir gehen zügig und haben dennoch das Gefühl, nicht voranzukommen. Die Schwärze der Nacht nimmt uns jeden Bezugspunkt und die Zeit scheint nicht vergehen zu wollen. Ich schaue auf die Uhr. Immer noch mindestens zwei Stunden, bis die Dämmerung einsetzt.
Plötzlich weht uns kalter Wind entgegen und das Gelände flacht ab. Wir drehen uns im Kreis und leuchten die Umgebung aus. Vor uns scheint das Gelände abzufallen. Links führt eine felsige Verbindung weiter in die Dunkelheit hinein. Schaut aus, als wären wir jetzt am Grat, meine ich. Ja, stimmen die Burschen zu. Das muss das Galenjoch sein.
Vor uns befinden sich 4 km Grat und 5 Gipfel. Der erste des Tages wird das Chli Dirruhorn (3.890 m) sein. Aber auch davon trennen uns noch gut 1,5 km.
Geheimnisse der Dunkelheit
Nach dem Galenjoch ändert sich das Gelände schlagartig. Der Untergrund ist jetzt durchgehend felsig. Aus der Schwärze der Nacht tauchen Felsstufen, kleine Türme und Zacken auf, die wir überklettern oder umgehen müssen. Dazwischen wird der Grat aber immer wieder flach und wir müssen ab und zu auch ein paar Meter abklettern.
Ich spüre eine zunehmende Tiefe neben und eine wachsende Unsicherheit in mir. Nicht zu wissen, ob oder wie weit der Grat neben mir abfällt aber auch die Unfähigkeit, vorauszuschauen und mich darauf einzustellen, was als nächstes auf mich zukommt – all das macht mich unruhig.
Die Sehnsucht nach der Helligkeit des Tages und der Wärme der Sonne wird immer größer. Zumal der Wind nicht nachlassen will und mich trotz Daunenjacke fröstelt. Wind, Kälte, und die Schwärze der Nacht. Sie zehren allmählich an meiner Zuversicht. Und trotzdem finde ich es aufregend, welche Geheimnisse die Dunkelheit vor uns noch bereithält.
Nicht immer ist der Fels fest. Mehrmals müssen wir in brüchige Flanken queren und auch die ersten anspruchsvollen Kletterpassagen tauchen auf. Meist bewegen wir uns im I und II Schwierigkeitsgrad. Einzelne Stellen würde ich mit III bewerten.
Sonnenaufgang am Nadelgrat
Dann geht die Sonne auf und ändert alles. Zunächst ist die Sicht noch leicht verschwommen. Doch mit jeder Minute wird die Welt heller und ich sehe klarer. Ich knipse die Stirnlampe aus. Der Horizont färbt sich orange. Ein dickes Nebelmeer bedeckt die Täler. Nur die höchsten Schweizer Gipfel spitzen daraus hervor.
Dann fallen die ersten Sonnenstrahlen über das Lagginhorn und erleuchten die Gipfel des Matterhorns und des Weisshorns. Nach Stunden in Finsternis und Nebel spüre ich endlich die Sonne im Gesicht. Der kalte Wind wird sofort erträglicher und die negativen Gedanken verschwinden mit der Dunkelheit.
Die Schönheit der Landschaft überwältigt, ja erschlägt uns fast! All das war die ganze Zeit um uns, nur konnten wir es nicht sehen. Jetzt überfluten uns unzählige Details dieser Bergwelt: reinweißer Nebel unter uns, der Horizont und die Felsen glühen im Morgenlicht, unsere Wangen werden warm und gewinnen ihre rosige Farbe zurück und die Stille verstärkt all diese Eindrücke. Es ist, als würde man nach einem langen Traum die Augen öffnen und sich im Paradies wiederfinden.
Am Chli Dirruhorn geht die Reise erst los
Der Grat wölbt sich nun immer öfter zu kleinen Türmen auf oder spitzt sich auf schmale Zacken zu. Im leichten Auf und Ab geht’s dem ersten Gipfel des Nadelgrats entgegen. Über eine liegende, abschüssige Platte erreichen wir auf Zehenspitzen das Chli Dirruhorn (3.890 m).
Bis hierher waren schon einige wunderbare Meter dabei. Der Nadelgrat hat uns voll eingenommen. Vom Chli Dirruhorn kann man entweder einige Meter abseilen oder steil in eine Scharte abklettern. Danach beginnt der Anstieg auf das Dürrenhorn, auf dem man sich mal direkt am Grat, mal etwas rechts in der Flanke hält. Eine plattige Passage (III) verlangt kurz volle Konzentration und sicheres Steigen auf kleinen Tritten.
Um 8 Uhr stehen wir schließlich am ersten von vier Viertausendern am Nadelgrat. Wir genießen nur kurz, denn die Zeit drängt. Wir waren nicht langsam unterwegs und dennoch haben wir bis hierher schon fünf Stunden benötigt. Der Blick entlang des Grats legt die Tatsachen offen: erst ein Bruchteil der Tour ist geschafft.
Scharfe Zacken: vom Dürrenhorn zum Hohberghorn
Vom Dürrenhorn steigen wir in leichter Kletterei (II) aber sehr ausgesetzt etwa 100 Höhenmeter ins Dirrujoch ab. Wild übereinander gestapelt liegen hier die Felsblöcke am Grat. Als würden wir auf Mikado-Stäben balancieren. Immer in der Hoffnung, dass sich keiner bewegt. Die meisten weichen hier wohl weiter nach unten in die Westflanke aus. Wir finden es am Grat aufregender, schöner und weniger brüchig.
Nach dem Dirrujoch erwarten uns weitere einfache Kletterpassagen am Felsgrat, bevor er in einen Firngrat übergeht. Erst hier müssen wir erstmals die Steigeisen anlegen. Auf dem teils eisigen Aufschwung schreiten wir dem Gipfelaufbau des Hohberghorns entgegen. Der Schnee hat sich schon weit zurückgezogen und erschwert den Übergang zurück in den Fels.
Weil wir aus der Ferne schwer beurteilen können, wie eisig und steil der Übergang tatsächlich ist, entscheiden wir uns, die Passage am Seil zu gehen. Ein paar Eisschrauben sind schnell gesetzt und halten bombenfest. Der Gipfelaufschwung wirkt furchteinflößend und brüchig. Wir bleiben angeseilt und gehen am laufenden Seil weiter. Die Kletterei entpuppt sich als wenig schwierig (II) aber als genauso brüchig, wie sie von unten ausgesehen hat.
Das bekommen Chris und ich auch schmerzhaft zu spüren, als das Seil über uns einen kopfgroßen Felsblock löst. Er poltert über die Flanke herab und spaltet sich. Die eine Hälfte trifft Chris auf der Hand, die andere landet auf meinem Rucksack. Zum Glück konnte ich mich rechtzeitig ducken.
Nadelgrat: auf ins Finale
Am Hohberghorn (4.219 m) legen wir Seil und Steigeisen wieder ab. Wir halten uns nicht lange am Gipfel auf und ziehen sofort Richtung Hohbergjoch weiter. Den Großteil des Grates haben wir geschafft, aber zwei Highlights stehen uns noch bevor: das Stecknadelhorn und das Nadelhorn.
Die Jungs leiden mittlerweile sehr stark unter der Höhe und klagen über Kopfschmerzen und Übelkeit. Es war natürlich keine gute Idee, eine Tour, bei der man sich so lange über 4.000 Metern aufhält, ohne Akklimatisation zu machen. Aber die Urlaubs- und Sonnentage in diesem Sommer sind knapp und jede Lücke im Terminplan und Schönwetterperiode will genutzt werden.
Ich biete den beiden ein Aspirin an. Doch es dauert einige Zeit, bis es wirkt und wir kommen nur langsam voran. Kurz vor dem Hohbergjoch müssen wir erneut die Steigeisen anziehen, um sie unterhalb der Felsen des Stecknadelhorns wieder zu entfernen. Das ständige Ein- und Auspacken und Hin- und Herwechseln beginnt allmählich zu nerven.
Ich versuche, die gedrückte Stimmung etwas zu heben und die Burschen aufzuheitern. Immerhin machen wir das freiwillig. Wir wussten, dass es anstrengend werden würde. Genau deshalb sind wir doch da. Für das absolute Sein in dieser einmaligen Landschaft. Und auch, um ein wenig unsere körperlichen und mentalen Grenzen abzutasten.
Stecknadelhorn: sieht schlimm aus, ist es aber nicht
An meine mentalen Grenzen komme ich fast, als wir vor dem Felsgrat des Stecknadelhorns stehen. Der sieht schmal aus. Und brüchig. Und schwierig. Ich entscheide, dass ich ans Seil will, um es kurz danach gleich wieder zu bereuen.
Denn die Kletterei ist bei Weitem nicht so schwierig, wie sie von unten ausgesehen hat. Nur wegpacken wollen wir das Seil jetzt mitten am Grat auch nicht mehr. Wir gehen am laufenden Seil weiter. Etwas gedankenverloren drängt uns der Grat unbewusst immer weiter in die Westflanke ab.
Als wir bemerken, dass wir uns zu weit von der Gratschneide entfernt haben, befinden wir uns bereits in ungemütlich brüchigem Gelände. Verzweifelt suchen wir nach festen Sicherungspunkten. Doch nichts hier sieht vertrauenswürdig aus.
Vorsichtig arbeiten wir uns wieder zum Grat hoch. Besser. Noch besser: die Ankunft am Gipfel. Das Stecknadelhorn ist ein schmaler Zapfen mit einem wunderschönen Gipfelkreuz. Zum Gletscher hin fallen steile Schnee- und Eisflanken ab, zur anderen Seite ragen dunkle Felswände in die Tiefe. Und Richtung Nadelhorn zieht ein eleganter Firngrat.
Die Erleichterung, endlich hier zu sein, steht uns allen Dreien ins Gesicht geschrieben. Wir umarmen uns mit dem guten Gefühl, dass ein Großteil der Schwierigkeiten geschafft ist und nehmen uns Zeit, etwas zu essen. Es ist kurz nach Mittag. Mit den Kilometern am Nadelgrat sind auch unsere Wasservorräte geschwunden. Erstmals denken wir an den Abstieg. Der wird lang und zermürbend werden.
Einsam und frei am Nadelgrat
Bisher waren wir auf jedem Nadelgrat-Gipfel allein. Wir sind gespannt, ob sich das am Nadelhorn fortsetzen wird. Gegenüber am Grat erkennen wir einzelne Bergsteiger. Es ist wenig los.
Etwas träge reißen wir uns vom Stecknadelhorn los und steigen über blockiges Gelände (I) Richtung Nadelhorn ab. 50 Höhenmeter tiefer tauchen die Felsen wieder in Schnee ein. Erneut wechseln wir auf Steigeisen und folgen einem schön geschwungenen Firngrat.
Nebel zieht auf. Dramatisch umspielt er den Grat. Hüllt ihn ein, bis ihn eine Windböe wieder freilegt. In rhythmischem Auf und Ab nähern wir uns dem Gipfelaufbau des Nadelhorns. Wir wählen nicht die direkte Variante, da der Grat dort stark vereist wirkt.
Stattdessen weichen wir in die Nordflanke aus und queren diese, bis wir dahinter auf den Normalweg treffen. Bei Eis kann die Querung tückisch sein. Wir finden gerade noch ausreichend gute Tritte im hartgefrorenen Untergrund. Wohl fühle ich mich dabei nicht. Unter der Flanke klafft eine riesige Spalte und in der Querung selbst müssen wir vier Mal die Randspalte überwinden. Diese hat wenigstens solide Brücken und so kommen wir mit leicht zittrigen Knien aber sicher auf der Normalspur an. 100 Höhenmeter trennen uns dann noch von unserem letzten Gipfel am Nadelgrat.
Nadelhorn: am letzten Zacken
Gute Tritte in festem Schnee bringen uns dem vierten 4.000 für heute näher. Je weiter wir uns den Gipfelfelsen nähern, umso mehr schwindet allerdings die gute Schneeauflage und wir müssen bei einigen eisigen Passagen nochmals gut Acht geben.
Auch das Nadelhorn will heute verdient sein. Umso mehr freuen wir uns, als wir uns dort ebenfalls vollkommen einsam einfinden. Ganz allein stehen wir auf dem letzten Zacken des Nadelgrats und blicken auf den Weg zurück, den wir heute schon gegangen sind.
Dieser Weg sieht auch aus der Ferne unglaublich weit und spannend aus. Weniger spannend ist das, was uns noch bevorsteht: der 12 Kilometer lange Abstieg über den Riedgletscher nach Gasenried.
Dazu klettern wir den Gipfelaufbau des Nadelhorns wieder ab und folgen dem Normalweg bis zum Windjoch. Hier zweigt rechter Hand der Weg zur Mischabelhütte ab. Wer zur Bordierhütte will, hat noch einen Gegenanstieg zu bewältigen und nimmt dabei einen weiteren Gipfel mit. Das Ulrichshorn (3.925 m) ist eigentlich nur ein Schneehügel, der uns aber endgültig den Rest gibt.
Trägen Schrittes erreichen wir die Kuppe und lassen uns von dort gleich hinab zum Riedgletscher treiben. Im Laufschritt zurück zur Hütte. So haben wir uns den Abstieg vorgestellt. Die Realität sieht anders aus. Am Gletscher ist keine Spur vorhanden. Die Runde dürfte in den vergangenen Tagen kaum gemacht worden sein.
Bei jedem Schritt brechen wir knöcheltief in Sulz, Schnee oder Harsch ein. Statt im Eilschritt kommen wir nur im Schneckentempo voran. Es ist zermürbend!
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Wie 1.000 Nadelstiche
Es fasziniert mich, wie eine Tour einerseits derart begeistern und andererseits so niederschmettern kann. Im unteren Teil des Gletschers irren wir einige Zeit verloren zwischen den Spalten umher. Ein Steilabbruch verdeckt uns von oben die Sicht auf die Spaltenzone und wir können den Idealweg nicht ausmachen.
Wir halten uns zunächst nahe am Gletscherrand und navigieren dann im Zick-Zack durch den Gletscherbruch. Erleichterung, als wir endlich die Steigeisen und Gletscherausrüstung ablegen können. Resignation, als der Rucksack wieder schwerer und klar wird, dass es immer noch 10 km bis nach Gasenried sind.
Im Laufschritt nähern wir uns der Bordierhütte, sammeln unsere zurückgelassenen Sachen ein und geben uns unserem Leidensweg hin. Wir haben uns das freiwillig ausgesucht.
Den Zustieg zur Bordierhütte finden wir jetzt weniger schön als gestern noch. Ehrlich gesagt ist daran gerade alles grauenhaft. An den Gesichtern der Burschen erkenn ich, dass sie genauso fühlen. Es soll vorbei sein.
„Du hast drei Möglichkeiten im Leben:
aufgeben, nachgeben oder alles geben.“
Jeder Schritt brennt auf der Fußsohle wie 1.000 Nadelstiche. Dass wir am Nadelgrat waren, spüren wir am ganzen Körper. Meine Suunto zeigt mittlerweile 3.000 Höhenmeter Abstieg an. Und es fehlen noch mindestens 400. Im steilen Lärchenwald beginnen auch meine Knie zu stechen. Wir sind wieder einmal erstaunt, wie viel ein trainierter Körper leisten kann.
Dann flacht der Weg ab, der Ort ist in Sicht, dann das Auto und bald haben wir vorzüglich gespeist. Später kuscheln wir uns im Kofferraum unseres Autos in die Schlafsäcke. Erst 12 Stunden später werden wir wieder aufwachen.