Eine Nudisten-WG, ein Selbstversuch und jede Menge nackter Tatsachen. | Teil 1
Ich hechte nach dem Ball und als meine nackte Haut auf den harten Holzboden trifft, bin ich mir nicht mehr ganz sicher, ob ich das richtige tue. Mein Körper klebt am Boden fest und ich spüre wie sich kitzelnd ein kleiner Schweißtropfen den Weg über meine Stirn bahnt. Um mich herum hüpfen elf nackte Männer, die Hälfte von ihnen freut sich über den gerade erzielten Punkt. Ich bin umgeben von elf schwingenden Penissen, die zu Menschen gehören, die ich gerade mal eine gute halbe Stunde lang kenne. Die Luft in der Halle steht still und ich frage mich: Was zur Hölle mache ich hier?
„Nacktsein ist in der Gesellschaft eben nicht einfach nur das Nacktsein, sonst könnte man es ja einfach machen…“
Angefangen hat wohl alles mit Oskar (28) und Felix (25). Ein Pärchen, das sich vor vier Jahren auf einer Silvesterparty kennengelernt hat und das mir nun gegenüber an einem Küchentisch sitzt.
„Unsere WG ist doch eigentlich relativ gewöhnlich“, sagt Felix abwägend und nimmt einen Schluck aus seiner Teetasse. Seine blonden Haare fallen ihm dabei in die Stirn. Er wirkt jungenhaft und man kann sich kaum vorstellen, dass er bereits im 14. Semester Physik studiert. Oskar, der ein gutes Stück größer als Felix ist, nickt zustimmend. „Von den Problemen, die man so miteinander hat, bis zu den guten Seiten, die eine WG mit sich bringt.“ Die Antwort überrascht mich und mein Blick wandert unweigerlich von Felix Oberkörper, der von einem T-Shirt bedeckt ist, weiter nach unten.
„Abgesehen von dem FKK-Aspekt natürlich…“, schiebt Felix hinterher. In diesem Moment betritt Janosch den Raum. Er ist einer von drei weiteren Mitbewohnern, mit denen sich die beiden seit April ihre Wohnung teilen. Er ist komplett nackt und seine Haut ist derart hell, dass er regelrecht leuchtet. Aus den Augenwinkeln beobachte ich, wie er sich ein Glas Wasser holt und wortlos wieder aus der geräumigen Wohnküche verschwindet.
Ihre Wohnung liegt im 4. Stock und befindet sich in einer erstaunlich schönen Straße. Das hätte man nach dem Meer an Satellitenschüsseln auf dem Weg hierher gar nicht erwartet. Ich war auf dem Weg zu einer Nudisten-WG und nur noch vier Stockwerke trennten mich von meinem Ziel. In meinem Kopf schwirrten derart viele Fragen, dass ich beim Zählen der Stockwerke vollkommen durcheinander kam. Würden Felix und Oskar jetzt wirklich nackt sein? Wie würde ich auf zwei nackte Interviewpartner reagieren? Muss man sich in einer Nudisten-WG eigentlich auch ausziehen? Eine angelehnte Tür ließ mich stehenbleiben. Das müsste es sein, ich trat ein. Nach einem zaghaften Hallo kam Felix um die Ecke um mich zu begrüßen. Ja, er war nackt. Zwar trug er ein T-Shirt, ansonsten jedoch war er vollkommen nackt. Augenkontakt, schärfte ich mir ein, bloß den Augenkontakt halten.
„Ich fand die Idee schon immer spannend. Als im Zuge der Gentrifizierung dann gleichzeitig unsere Wohnungen gekündigt wurden, wollten wir eigentlich zusammenziehen. Da ist mir wieder die Sache mit der Nudisten-WG eingefallen.“
Über WG-Gesucht haben die beiden eine Anzeige geschaltet und überraschend viele Anfragen bekommen. Zwei bis drei Leute pro Tag und Oskar lacht, wenn er von Leuten erzählt, die aus purer Verzweiflung einfach alle anschreiben und dabei den FKK-Aspekt vollkommen überlesen haben. Er hat eine melodische Stimme und wenn er spricht, macht er häufig Pausen um nach den richtigen Worten zu suchen.
„Es fühlt sich immer wie eine Art Befreiung an, Sachen auch abzulegen. Nicht nur nackt sein, sondern sie auch wirklich wegzutun und dann mehr man selbst zu sein. Mir geht es oft so, wenn ich nach Hause komme, dass ich mit den Klamotten auch den ganzen Alltagsstress abstreife. Es ist mittlerweile so, dass ich damit mein privates Ich verbinde und mich erholen kann.“
Erstaunlicherweise ist Oskar während unseres Gesprächs komplett bekleidet. Er macht sein praktisches Jahr in der Ausbildung zum Psychotherapeuten und ist daher erst später zu dem Gespräch dazu gekommen. Die Klamotten blieben an und mir wird bewusst: Ausziehen ist eben doch noch mal was anderes als einfach schon nackt zu sein. Und Nacktheit scheint auch nicht einfach nur Nacktheit zu sein.
„Es hat etwas mit dem Körpergefühl zu tun. Dass man schwierig ein Verhältnis zum eigenen Körper bekommt. Wenn der ständig irgendwie bedeckt ist und man ihn nicht sehen oder merken kann und immer das Gefühl hat, man muss ihn verhüllen. Da kriegt man dann ein komisches Verhältnis zum eigenen Körper. Nacktsein ist in der Gesellschaft eben nicht einfach nur das Nacktsein, sonst könnte man es ja einfach machen…“
Oskars Worte wecken in mir Unbehagen. Die Sache mit dem Nacktsein ist bei mir nämlich so eine Sache. Ich bin nicht gerne nackt. Sich an einem öffentlichen Strand ohne vorgehaltenes Handtuch umzuziehen oder gar Nacktbaden – Für mich bisher undenkbar. Es ist nicht so, dass ich mich mit Badeanzug in eine Sauna setze oder mich weigere in Gemeinschaftsduschen nackt zu duschen. Nur fühle ich mich dabei nicht wirklich wohl. Ich trage lieber Klamotten, so war das schon immer. Heißt das jetzt, dass ich ein komisches Verhältnis zu meinem Körper habe?
Je länger ich darüber nachdenke, desto weniger ist mir bewusst, warum ich Scham empfinde wenn ich nackt bin. Ich mag meinen Körper eigentlich gern. Er ist nicht perfekt, aber perfekt genug, um sich darin wohl zu fühlen. Ich mache mich im Internet schlau und was ich lese, irritiert mich ein wenig. Letztendlich scheint Scham etwas mit Angst vor Ablehnung und Verurteilung zu tun zu haben. Man schämt sich für Dinge, die einem peinlich sind. Ich ziehe die Erkenntnis: Es ist also mal wieder die Angst davor, was andere von einem denken, weniger die eigene Unzufriedenheit mit dem Körper. Oder etwa doch? Das gute daran und was mir Mut macht: Im Internet lese ich auch, dass die Schamgrenze sich verschieben kann. Dass man sich nackt unwohl fühlt kann sich also auch ändern. So wie bei Oskar und Felix.
„Üben, man muss einfach üben! Es ist tatsächlich so, dass man es einfach machen muss. Dann merkt man ganz schnell, da ist nicht so viel dabei. Ich glaube schon, dass man Angst davor hat verurteilt zu werden von den anderen, dass man etwas Sittenwidriges macht. Aber das ist auch genau das, was ich mir davon versprochen habe, dass es einem irgendwann nicht mehr so interessiert und man sicherer wird. Einfach ein anderes Verhältnis zu seinem Körper bekommt.“
Als sie mir erzählen, dass ihr Bedürfnis nackt zu sein und dabei keine Scham zu empfinden nicht schon immer so gegeben war, finde ich das irgendwie beruhigend. Auch dass sie sich immer noch nicht so gerne vor ihren Eltern ausziehen, bringt mir die ganze Sache ein Stück weit näher. Bei ihnen hatte es viel damit zu tun, dass sie einander kennengelernt haben. Gepaart mit Neugier, Aufregung und dem Reiz am Neuen hat sich die Verbundenheit zur Freikörperkultur erst nach und nach entwickelt. Bis sie heute zu einem festen Bestandteil ihres Alltags geworden ist: Die beiden schwimmen nackt in einem FKK-Verein, gehen regelmäßig zum Nacktvolleyball und sind auch abseits der Vereinsebene aktiv, zum Beispiel in Form von Nacktwandern oder Nacktpicknicken.
Mit Menschen zu reden, für die Nacktheit so vollkommen selbstverständlich und normal ist, ist ansteckend. Vielleicht kann ich das auch? Vielleicht schlummert in mir ja auch irgendwo eine kleine Nudistin, die ich einfach noch nicht entdeckt habe. Vielleicht muss ich dem Nacktsein noch eine zweite Chance geben?