Nachtspaziergang

Hunderte von Worten ziehen als blauer Dunst verkleidet vorbei. Der Wind spielt, seine Saiten sind die Leitungen. Ich kippe auf einem Bordstein, hin und her, wie kubanischer Rum in der Flasche. Und ich schreibe ein Gedicht. Das vielleicht Schönste, weil ich es mit Worten nicht beschreiben kann. Und der Wind reißt mir meine Bilder fort. Und ich laufe ihnen hinterher – wie Waisen ihrem Ursprung. Laufe bis an den Rand der Stadt, vorbei am Elektrizitätswerk, da wo die Stadt aufhört schön zu sein, wo die Gehsteige uneben werden, und irgendwann aufhören, und nur eine einzelne schiefe Laterne noch leuchtet, und Schatten von Geäst und Laub baumeln auf dem bescheintem Wellblech eines Lagers. Und ich gehe weiter, da wo das Rauschen der Bäume den Atem der Stadt totschweigt. Und die Worte verschwinden im Dunkeln, und die Schritte werden hektischer, und ich laufe, laufe weg vor den Leuten, die mir die Luft rauben, laufe weg, wie schon immer, wie einst vor Beziehungen, Verpflichtungen, weil das Laufen, das Einzige war, dass ich früh gelernt habe, laufe und laufe, wie zu den leichten Frauen in den Nachtclubs, und den Käuflichen, die sich in den Schaufenstern räkeln, laufe weg, wie als Jugendlicher vor den Jugendlichen im Dorf, laufe weg, wie als Kind vor denen in der 4.d, laufe weg, weil immer etwas zwischen mir und ihnen stand. Und ich laufe, laufe im Kreis, um einen Block, um meinen Block, und da wo noch nachts das Licht brennt, und eine jüdische Violine weint, wohnt ein Fremder, der sich hinter Deutscher Dichtung versteckt und der auf meinen Namen hört. Und heute nacht werde ich in sein Haus einbrechen, ihn zur Rede stellen. Heute noch. Aber nur ein Zug. Nur einen noch, bis das Nervengift endlich wirkt.

Und hunderte Portraits ziehen in blauen Schwaden vorbei. Und ich höre den ›Mann in Schwarz‹. Unter schwarzem Himmel. Schwarz war Paolas Farbe.

Straßenhunde, vom Menschen erzogen. Vom Menschen verstoßen. Vom Menschen unmenschlich behandelt. Kauernd, lauernd, schlafend mit offenen Augen, da wo der Wind nicht ganz so stark zieht. Und die Hungrigsten trotten mir scheu, skeptisch hinterher. Aber alles Brot, dass ich hab, ist ein Augenblick Zeit und eine warme Hand.

Im Gästehaus riecht es. Noch immer. Nach französischer Möse, nach unsympathischem niederländischem Nationalstolz. Und er, dieser Mann in meinem Alter, angehender Jurist mit schwachem Rücken, spricht noch immer, von seiner Mutter, von der Mutter aller Niederländer, die immer für die Nation da ist, und die alle Niederländer mit Stolz erfüllt. Und er versteht nicht, dass ich nicht auf mein Land stolz bin. Ich bin Stolz auf das, was Mutter und Vater geschaffen haben, bin stolz auf die Talente meines Bruders und die Neugier meiner großen Cousine, auf das reiche Herz meiner Tante, aber stolz, stolz sein auf einen Menschen, den die bloße Geburt in einer Rolle gebracht hat, die es ihm erlaubt herab zu schauen, wie ein Hirte auf seine Schafe, und die Herde bei Zeiten zu beruhigen, das verstehe wiederum ich nicht. Und während dieser Mann mit Kassengestell und gebügeltem Hemd von des Königen Courage und Mitgefühl fabuliert, frage ich mich, wer ihm die heiße Milch gereicht, als er im Bett kränkelte, wer ihm die Windeln gewechselt, sein Hemdchen übergestreift, ihn an die Hand genommen und zum Kindergarten begleitetet hat. Und er fragt nach. Nach irgendetwas. Irgendwas, auf das ich stolz sein müsste. Er fragt nach Deutschen Autos, der Nationalmannschaft, nach Angela Merkel, nach Deutscher Küche und ich weiß nur zu antworten, dass ich die Deutsche Bäckerkunst schätze. Und für einen Moment scheint er befriedet. Und dann spricht er wieder von der Mutter, dieser Mutter aller Niederländer, die sich zu bestimmten Anlässen orange kleiden, da der Name ›Orange‹ im niederländischen Königshaus auftaucht, und er spricht pathetisch, mit peinlichem Stolz und ich denke ›and kings and queens and millionaires/may never know what I have known/and thank the stars I’m the lucky one‹. Und die wunderschöne Französin diskutiert ihre Beziehungsprobleme am Telefon und doch in aller Runde noch immer aus, und Achsa schreibt E-Mails, und ich nehme noch einen Schluck. Und betrunken lege ich mich ins Bett.

Am nächsten Morgen stehen Achsa und ich zeitig auf. Kaffee, Haferkleie und grüner Äpfel. Der Bus nach Puerto Natales, Chile, geht früh. Verschlafen stolpere ich aus dem Gästehaus. Es ist noch Dunkel, allmählich jedoch erwacht das Städtchen. Und für einen kaum wahrnehmbaren Moment umhüllt mich ein Geruch, der mich Dekaden zurück trägt: Und ich schlürfe durch klammes, winterliches Dunkel, über den Davenstedter Marktplatz, über die Wiese, in die tausende Kinderfüßchen eine braune diagonale Narbe getreten haben, vorbei an dem Spielzeuggeschäft, an dem ich nach der Schule oft meine Stirn presste, vorbei am Kiosk, der Pornohefte auch an Jugendliche verkaufte, vorbei am Schneider und dem Kaugummiautomaten, vorbei am Bäcker, bei dem sich die Jungs der Vierten immer Schoko-Rumkugeln kauften, vorbei am Schulhausmeister, der immer ganz viele Schüssel an seinem Bund trug und vor dem ich immer ein bisschen Angst hatte, hinauf in den vierten Stock, zu Fr. Klingenberg, die bereits am Pult wartete, zusammen mit diesem Duft aus nass gewordenen Schulranzen, linierten Schulheften, Kerzenwachs, gescheuertem Linoleum, Heizungsluft und Lebkuchen aus dem Supermarkt, zusammen mit jenem Duft also, der sich in meine Erinnerung brannte, wie all die Flämmchen in die roten Kerzen, die Fr. Klingenberg immer zur Adventszeit auf unsere Tische stellte.


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