"Nachtgestalten": Berliner Begegnungen

Herr Peschke und sein neuer Freund. ©Pandora Film


Jochen (wunderbar trottelig: Oliver Bäßler) ist ein Landei. Irgendwo bei Neuruppin geboren, lebt er noch immer dort. Er verdient sein Geld mit der Landwirtschaft. Aber nun möchte er auch mal was erleben, raus in die Welt, rein in die Hauptstadt, „auch mal einer anderen Kuh ans Euter fassen.“ Straßenmusikern, die sonst in dunklen Gassen oder U-Bahn-Eingängen stehen und von jedermann missachtet werden, gibt er Geld, er kauft sich Obdachlosen-Zeitungen, ohne überhaupt ein Exemplar zu erhalten. Er trifft auf ein drogenabhängiges Mädchen (spielt wahnsinnig: Susanne Bormann), das sich gegen Geld auszieht. „Ausziehen macht 20 extra“, erklärt sie ihm. Aber er will eigentlich gar nicht. Er will doch nur mal was erleben. Er, der auf dem Land aufwuchs und noch nie in Berlin war. Er, der naive Bauer aus brandenburgischen Weite will was sehen von dieser sagenhaften Stadt, die nie schläft. Und Andreas Dresen lässt ihn so einiges erleben.

Das Landei und seine Begleitung. ©Pandora Film


„Nachtgestalten“ heißt der dazugehörige Film. Es ist ein wunderbarer Film über diese wunderbare Stadt. Ein Film, der noch zwei, ach, eigentlich viel mehr Geschichten erzählt. Ein Film, 16 Jahre alt, aber noch immer so aktuell wie eh und je. Mal abgesehen von der Währung hat sich in Berlin nicht viel geändert.
Es gibt sie immer noch an jeder Ecke, die Taxifahrer (Horst Krause), die Touristen durch die Stadt kutschieren und diese zu den Stellen bringen sollen, wo was los ist. Oder die Art Taxifahrer, die Obdachlose ins Auto steigen lassen, deshalb aber gleich Angst um ihr Polster bekommen. Auch jene Obdachlose (Myriam Abbas, Dominique Horwitz), die davon träumen, einfach mal nur eine Nacht mit einem Dach überm Kopf zu hausen, finden sich auch heute wohl noch an vielen Teilen. Nicht sehnlicher wünschen sie sich eine warme Dusche und dann kommen sie ganz unverhofft doch noch zum großen Reichtum - und zu ihrer Dusche. Herzerwärmend. Und am Flughafen stolpert derweil heutzutage vermutlich auch des Öfteren ein Michael Gwisdek (Filmrolle: Hendrik Peschke) über einen afrikanischen Jungen aus Angola, der dort sitzt, nicht redet und nicht abgeholt wurde von seinem Bekannten. Peschke arbeitet in einer Firma, berichtet er stolz. Aber den Jungen, der dort sitzt und kein Wort versteht, was der Mann von ihm möchte, kann er ja nicht einfach sitzen lassen. Prompt bekommt auch der Feliz, der afrikanische Junge, seine eigene kleine Berlin-Rundfahrt.

©Pandora Film


Auch das ist eben eine Geschichte aus dieser Stadt, über die schon so viel geschrieben und gedreht wurde. Dresen hingegen erzählt nicht viel über die Stadt – und genau deswegen tut er es eben doch. Nazi-Herrschaft? DDR-Gedenkstätten? Es gibt so viel zu sehen in dieser Stadt, sicher, aber es sind die Menschen, die Berliner, die vor lauter Geschichts-Aufklärung und Reichstags-Besuchen zu kurz kommen. Und das sind die wirklich spannenden Geschichten dieser Stadt. Man muss nur einmal mit der U-Bahn fahren, um sie alle wiederzuerkennen, die Hendriks, die Obdachlosen mit Träumen, den naiven Bauern vom Land. Dresens Figuren sprühen nur so vor Lebenswirklichkeit, der Film ist verdammt realitätsnah.  
Natürlich: Überzeichnet ist da viel, aber da passt dennoch alles. Leichtfüßig stiefeln die Gestalten durchs nächtliche Berlin. Es ist eine Berlin-Expedition der besonderen Art, ein Berlin-Film, der die Menschen, eben den gemeinen Pöbel in den Vordergrund stellt, eine Geschichte mit starken Figuren. Das ist großartig geschriebene und lustvoll inszenierte Unterhaltung, zwischendurch vielleicht auch mal am Durchhängen, aber stets faszinierend. Und das wundervoll metaphorische Ende tut sein Übriges. 

©Pandora Film

"Berlin, du bist so wunderbar" hört man in der Bierwerbung. Dresen hat mit "Nachtgestalten" schon viel früher eine viel bessere Hymne auf die Hauptstadt und ihre Einwohner geschrieben.
BEWERTUNG: 8,0/10Titel: NachtgestaltenFSK: ab 12Laufzeit: 97 Minuten (Bonusmaterial: 30 Minuten + 40 Minuten Trailershow)Genre: Episodenfilm, Drama, TragikomödieErscheinungsjahr: Deutschland 199, auf DVD (neu gemastert) erhältlich seit 14.08.2015Regisseur: Andreas DresenDarsteller: u.a. Michael Gwisdek, Dominique Horwitz, Myriam Abbas, Oliver Bäßler, Susanne Bormann

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