Heute habe ich eine beeindruckende Frau zu Gast. Sie hat es sich hier gemütlich gemacht und ich werde sie jetzt mit ein paar Fragen bombardieren.
Denn: Sie wurde nicht nur überraschend schwanger, sie bekam auch ein ganz besonderes Kind. Ihre Tochter wurde mit Kampomeler Dysplasie geboren, einem seltenen Gendefekt. Dass das Leben mit einer solchen Krankheit nicht leicht ist, kann man sich zwar gut vorstellen – aber wie es wirklich ist, das wollen wir heute herausfinden. Um anderen, deren Kinder ebenfalls krank sind, Mut zu machen und sie spüren zu lassen, dass sie nicht allein sind.
Marie, Euer Leben wurde auf ganz besondere Weise verändert, durch die Geburt Eurer kleinen Tochter. Und das ganz unverhofft. Aber erst mal von vorne! Wann und wie hast Du gemerkt, dass Du schwanger bist? Und wie war Eure erste Reaktion? Freude? Schock? Überraschung? Alles zusammen?
Ich werde diesen Tag nicht vergessen. Es war ein Samstag Morgen. Mein Mann wusste wohl schon länger, dass mein wachsender Bauch nicht von der Futterei kommen konnte. So zwang er mich einen Test zu machen. Ich muss dazu sagen, dass ich unter Hyperprolaktinämie leide, was bedeutet, dass meine Hirnanhangdrüse zu viel Prolaktin ausschüttet und somit den Eisprung unterdrückt. Da ich seit geraumer Zeit keine Periode mehr bekam, stand für mich eine Schwangerschaft außer Frage.
Gesagt getan, machte ich also diesen Test. Ich hatte nicht mal Zeit ihn wegzulegen, bevor er mir schon „schwanger“ anzeigte. Ich war geschockt. Das konnte nicht sein. Der Test musste falsch gewesen sein. In Tränen aufgelöst rannte ich zu meinem Mann und knallte ihm den Test vor die Füße. Er freute sich total. Ich brauchte ein wenig Zeit. Fühlte ich mich dafür doch nicht belastbar genug, da mir meine Hormonstörung auch auf die Psyche schlug. Naja, dachte ich mir, jetzt habe ich wenigstens die Erklärung für meine extreme Müdigkeit, meine Übelkeit am Morgen und ich wusste, warum ich so Probleme hatte, mir morgens die Zähne zu putzen. Ansonsten hatte ich keinerlei Symptome zu verzeichnen. Real war es für mich jedoch erst ein paar Tage später, als ich die Kleine bei meiner Ärztin auf dem Ultraschall sah und diese mir sagte, dass ich bereits Ende der 12. SSW bin und mir sofort meinen Mutterpass aushändigte.
Wann habt Ihr erfahren, dass irgendetwas nicht stimmt?
Sofort. Schon bei dem eben genannten ersten Ultraschall fiel der Ärztin auf, dass irgendwas in dem Bewegungsablauf der Kleinen nicht normal sei. 2 Tage später fiel der Verdacht bei der Nackenfaltenmessung auch sofort auf und ich wurde wenige Tage später in der Uniklinik von einem Professor der Pränataldiagnostik untersucht. Daraufhin ließen wir eine Chorionzottenbiopsie (Entnahme von Mutterkuchengewebe) machen. Das Ergebnis erhielten wir erst nach ca. 8 Wochen. Von da an hatten wir Gewissheit und konnten uns einstellen auf das, was auf uns zukommen könnte.
Acht Wochen. Sicherlich eine quälend lange Zeit. Dann die Diagnose: Kampomele Dysplasie – was genau bedeutet das?
Es handelt sich dabei um einen sehr seltenen Gendefekt im Knochenbau. Die Häufigkeit des Auftretens liegt bei ca. 1/300 000 und die Überlebenschance bei 5%.
Typische sichtbare Symptome sind verzögertes Wachstum, verbogene Beine und/oder Füße, Hüftfehlbildungen, vermindert entwickelte Rippenpaare, Gaumenspalte, leichter bis schwerer Hörverlust, Skoliose, Ateminsuffizienz. In seltenen Fällen auch sexuelle Zweideutigkeit oder Geschlechtsumkehr – das trifft hauptsächlich auf Jungen zu.
Ich selbst hatte in beiden Schwangerschaften Angst davor, dass meine Kinder vielleicht nicht gesund zur Welt kommen. Ich kann mir nicht mal ansatzweise vorstellen wie es ist, wenn man erfährt, dass der kleine Mensch, der da im Bauch heranwächst, nicht gesund ist. Wie bist Du damit zurechtgekommen? Ist es überhaupt möglich damit fertig zu werden?
Meine Welt ist zusammen gebrochen. Mein Herz wurde zerfetzt. Ich dachte, mein Leben ist vorbei. Mein Mann und ich sind im Wartezimmer zusammen gebrochen. Ich wollte nicht mehr essen, obwohl ich bei Kummer eigentlich erst recht spachtel. Im Bekanntenkreis gab es noch weitere Schwangere, welche sich alle riesig auf ihre Babys gefreut haben und ich trug eine kleine Prinzessin in mir und wusste nicht mal, ob ich je ihre Mama sein darf.
Mit der Zeit wurde es leichter. Wir haben angefangen zu genießen, haben geplant, was es zu planen gab – ob für ein lebendes Kind oder eben ein nicht (mehr) lebendes. Aber vor allem haben wir die Zeit, die wir hatten, genossen.
Ob wir jemals damit fertig werden oder viel mehr das verarbeiten, was wir erlebt haben, ist ungewiss. Trotzdem sind wir glücklich.
Welche Chancen haben die Ärzte Eurem kleinen Sonnenschein ausgerechnet?
Zunächst kann man kaum von „Chance geben“ sprechen. Die Ärzte sagten uns bei der ersten Diagnostik, das die kleine tapfere Heldin keine Überlebenschance hat und haben uns zu einem geplanten Kaiserschnitt geraten, nachdem wir einen Abbruch ablehnten. Falls sie es schaffen sollte, wollte man den Strapazen einer natürlichen Geburt aus dem Weg gehen. Doch im Laufe der Schwangerschaft entwickelte sich scheinbar alles ganz gut, sodass ich mich doch für eine vaginale Entbindung entschied. Leider war sie Sternengucker und nach 24 Std Kampf kam es zum Kaiserschnitt, nachdem mir die Ärzte, die Frage stellten, ob ich mir wirklich sicher sei, dieses Kind gebären zu wollen. In unserem Fall wäre es gesetzlich erlaubt gewesen, die Schwangerschaft selbst im Stadium der Geburt noch abzubrechen. Sie kam dann sofort auf die Intensivstation. Dort bangten wir die ersten Stunden, doch sie stabilisierte sich schnell.
Das ist heftig. Ich wusste nicht, dass man zu dem Zeitpunkt die Schwangerschaftnoch abbrechen kann. Das ist erschütternd! Doch egal, was die Ärzte sagten: Eure Kleine ist da und bereichert Euer Leben! Trotzdem ist es nicht leicht und sie ist stark eingeschränkt. Was genau fehlt Ihr? Das ist ziemlich umfassend, nicht wahr?
Die kleine tapfere Heldin ist inzwischen 21 Monate alt. Sie kann gerade erst sitzen. Krabbelt nicht, läuft nicht, muss über eine Sonde ernährt werden, hat leichten bis mittelgradigen Hörverlust, kann aufgrund ihres Luftröhrenschnittes nicht sprechen. Sie ist motorisch nicht altersgerecht entwickelt, weder fein- noch grobmotorisch. Ihr Alltag ist von Therapien, Arztbesuchen und Frühförderungen beherrscht.
Das hört sich nach einer schweren Aufgabe und Belastung für Euch alle an. Im Februar wird sie schon zwei Jahre alt. Ein kleines Wunder! Welche Hürden habt Ihr in dieser Zeit gemeistert? Welche Fortschritte hat sie gemacht?
Wir haben sehr viel Zeit in Kliniken oder außerklinischen Intensiveinrichtungen verbracht. Wir haben gekämpft, dass unser Kind endlich nach Hause konnte. Wir sind mit diversen Pflegediensten, Therapeuten und Hilfsmittelversorgern in Kontakt gekommen, was nicht immer angenehm war. Wir haben gelernt, das wir den Ton und das Tempo angeben – allem voran die kleine tapfere Heldin und nicht irgendwelche Ärzte etc.
Sie hat viele kleine Fortschritte gemacht, die man als Eltern vielleicht nicht unbedingt sieht, weil man viel mehr erwartet.
Außerdem ist sie ein sehr schlaues, taffes Mädchen, was kognitiv sehr gut entwickelt ist. Sie hat ihren Weg gefunden, sich fortzubewegen, zu kommunizieren, trotz allem Kind zu sein – und das GLÜCKLICH und frech. Nächstes Jahr soll sie in die KiTa gehen.
Glücklich ist sie – und das ist toll! Jedes Mal wenn ich die Kleine sehe, strahlt sie mit der Sonne um die Wette! Ich habe sie gleich in mein Herz geschlossen! Doch wie reagieren andere auf Euch? Wird Eure Tochter blöd angegafft? Gibt es dumme Kommentare? Oder gehen die Menschen offen auf Euch zu? Und wie gehen andere Kinder mit ihr um?
Das ist sehr unterschiedlich. Man kann schon sagen, dass die Meisten gaffen – neugierig, bemitleidend, ungläubig, abwertend, verständnisvoll und interessiert. Dumme Kommentare gibt es eher selten, die Blicke überwiegen da eigentlich. Manche trauen sich, aufrichtig gemeinte Fragen zu stellen, andere trauen sich, zu fragen, ob man, das arme Kind nicht mehr abtreiben konnte. Manche gehen offen auf uns zu, andere meiden uns. Wir haben Freunde verloren und wieder andere neu dazu gewonnen.
Kinder sind im Allgemeinen recht aufgeschlossen, weil sie es noch nicht sehen und verstehen. Sind die Eltern allerdings negativ eingestellt, merkt man das in der Regel den Kindern auch an. Dennoch ist es mit ihren Einschränkungen nicht leicht, Anschluss und Freunde zu finden.
Es ist schade, dass manche so negativ reagieren. Vor allem, wenn man sogar sogenannte “Freunde” verliert, ist das echt hart. Ich hoffe, Ihr habt trotzdem Menschen, die hinter Euch stehen. Immer!
Betreut Ihr Eure Tochter denn rund um die Uhr selbst, oder bekommt Ihr Unterstützung?
Hauptsächlich betreuen wir sie alleine. Da sie aber durch ihren Luftröhrenschnitt ein intensivpflichtiges Kind ist, was rund um die Uhr überwacht werden muss, kommt jede Nacht von 22-8h ein Pflegedienst. Manchmal auch tagsüber für ca. 6 Stunden, was mir große Abhilfe schafft, um mich auch mal in Ruhe um den Haushalt oder mich selbst zu kümmern. Aber es nimmt auch viel Privatsphäre…
Wie geht es DIR persönlich mit der Situation? Es ist sicher nicht immer leicht, weil eine so große Verantwortung auf Dir lastet. Was tust Du für Dich, zum Entspannen, zum Abschalten und um wieder runter zu kommen?
Oft fühle ich mich sehr allein und einsam, nicht dazu gehörig, weil mein Alltag andere Probleme mit sich bringt, als die einer „normalen“ Mutter. Mit der Erkrankung komme ich gut klar, jedoch ist der Wunsch sehr groß, nach dem ersten „Mama“ oder den ersten Schritten oder ihr einfach mal ein Brötchen unterwegs in die Hand zu drücken, statt mir einen Platz zu suchen, wo ich sie ungestört sondieren kann.
Ich bin Mutter mit ganzem Körpereinsatz, wenn nicht sogar noch viel mehr. Ich, als Mensch, Frau, bleibe auf der Strecke und das lässt mich mein Körper auch spüren. Ich gebe mein letztes Hemd für die Kleine und stelle mich ganz hinten an. Mich zu entspannen fällt mir sehr schwer, weil meine Gedanken nur darum kreisen, was ich noch alles tun kann oder muss. Ich habe es einfach verlernt, ich zu sein und auch mal an mich zu denken. So langsam taste ich mich wieder ran. Mal sehen, wie weit ich komme.
Ich hoffe, dass Du bald auch wieder zu Dir findest und mal nur an Dich denken kannst. Das ist sehr wichtig, um zwischendurch wieder ein wenig Kraft zu tanken! Es ist auch wichtig, das Augenmerk auf die schönen, positiven Dinge zu lenken, gerade dann, wenn es mal wieder besonders schwer wird. Was war der bisher schönste Moment mit Deiner Tochter?
Ich kann nicht sagen, was der schönste Moment war, da wir bisher nicht so einschneidende Meilensteine erleben konnten, wie das erste gesprochene Wort oder die ersten allein gegangenen Schritte.
Was ich aber in Erinnerung behalte, war ihr erstes Lächeln im Krankenhaus; der Tag, an dem wir sie endlich nach Hause nehmen und eine Familie sein durften und als sie alleine sitzen konnte.
Danke Marie, dass Du meine Fragen so offen und ehrlich beantwortet hast. Das war sicher nicht so leicht für Dich. Aber bestimmt macht es anderen Mut zu lesen, wie Ihr das Leben meistert und glücklich sein könnt, trotz der schweren Erkrankung Eurer kleinen Tochter.
Ich finde es so beeindruckend, wie Du Dich aufopferst für das Wichtigste in Deinem Leben: Deinem kleinen Sonnenschein!
Schreiben hilft beim Verarbeiten. Deshalb startet Marie jetzt ganz neu mit ihrem Blog:
KampoNele – Zwischen Minderheit und Normalität
Besucht sie doch auf Ihrer Seite, wenn Ihr wissen wollt, wie es mit Ihr und der kleinen Heldin weitergeht. Schaut auch mal auf ihrer Facebook-Seite vorbei.