Der Blick schweift seit Monaten ungläubig auf den Sportteil der chilenischen Tageszeitung „El Mercurio“. Von den internationalen Ligen werden nur die ersten Fünf der Tabelle abgedruckt. Beim Futbol Aleman reihen sich mit Dortmund, Leverkusen sowie natürlich Bayern München die üblichen Topteams ein. Doch zwischen dem ewigen Zweiten und dem Rekordmeister hat sich Hannover 96 festgesetzt. Jener Verein, den wohl der Großteil der Fußballwelt vor Saisonbeginn auf den Abstiegsrängen erwartet hatte. Ein Abstieg ist jedoch drei Spieltage vor Schluss nicht einmal mehr durch Weltuntergang möglich. Die Roten schweben in himmlischen Höhen, da kann am Boden passieren, was will. Selbst der Sturz von den „internationalen Plätzen“ ist unwahrscheinlich, so dass 96 in der nächsten Saison eine Trophäe mehr gewinnen darf.
Diese Momentaufnahme sorgt jedoch für eine kleine Identitätskrise. Ist das wirklich mein Lieblingsverein, der da über den Bildschirm flimmert? Hannover 96, das war eigentlich das Team, welches seit dem Wiederaufstieg rund um den 11. Platz rumpelte, plötzlich spielt es wunderbaren Fußball. Mit Leichtigkeit wurde die Hürde in Freiburg übersprungen. Mit dem Anpfiff verschwanden alle Zweifel, ob die Roten selbst am Donnerstag punkten können. Sie dominierten das Spiel vom ersten Ballkontakt an und schossen dabei a Tore, wie man sie von einem Tabellendritten erwartet. Nach dem 3:1-Sieg steht 96 wieder auf Platz Drei.
Den hatte Hannover zuletzt nach wechselhaften Auftritten verloren. Dass Freitag kein 96-Tag ist, wurde zuletzt beim 0:4 gegen Köln bewiesen. Das sofortige Aufrappeln gegen Hoffenheim (2:0), erschwerte Borussia Dortmund wieder mit einem 4:1 gegen 96 erneut. Aber wenn die Roten samstags zuhause ran müssen, springt meist ein Sieg raus. So auch gegen Mainz beim 2:0. In Hamburg gewann die Slomka-Elf durch das 0:0 jenen Punkt, der eventuell die Champions League-Qualifikation sichert.
Trotz aller Freude fühle ich mich fernab von meinem Team. Ich kenne diese legendäre Elf fast nur aus dem Fernsehen. Die Lieder, die auf den Rängen gesungen werden, lerne ich via Internet. Das Europapokallied sitzt bei mir seit Jahren als spanische Version der Gruppe Ska-P für ihre Lieblingsmannschaft Rayo Vallecano im Ohr. Mit Europa hat das weniger zu tun, eher mit dem Rauschmittelkonsum und der linken Subkultur der Rayo-Fankurve. In südamerikanischen Stadien wird das Lied oft auf die eigene „Galeria“ umgesetzt, so auch bei den „Los de Abajo“ von Universidad de Chile.
Während in meinem ehemaligem Wohnzimmer „Niedersachsenstadion“ mittlerweile Spitzenfußball zu sehen ist, mache ich mit den Stadionbesuchen in Chile oft eine Zeitreise in die 80er Jahre. Wie damals, als ich 96 für mich entdeckte, werden Eintrittskarten noch an der Tageskasse angeboten und die Ränge haben reichlich Platz für wenige Zuschauer. Ob ich nun zu Huachipato, Naval, Deportes Concepcion, Lota Schwager oder selbst zur blaugelben Universidad de Concepcion gehe, ich sehe Durchschnittsgekicke der ersten und zweiten chilenischen Liga. Nach den Auftritten von Naval und Deportes Concepcion richte ich mittlerweile meine Wochenendplanungen. Da gibt es zwar keine Champions League, aber Stadionfußball wie ich ihn gewohnt bin und auch mag. Hannovers internationale Glanztaten verfolge ich dann im europäischen Herbst vor Ort auf den Rängen. Dafür verpasse ich dann sogar die chilenische Primera B.