Mutterliebe

Mutterliebe

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Marco entpuppte sich zu einem sehr guten Schüler, der mit seinen Noten seine Schwester sogar noch übertraf. Die Grundschule forderte ihn kaum und auch er wechselte später mit einem Notendurchschnitt von 1,4 aufs Gymnasium.
Marco war von etwas stämmiger Natur und wurde von manchen Kindern deswegen gehänselt. Wenn er  mit seiner Schwester den Großteil der Sommerferien in einem der zahlreichen Waldheime Stuttgarts verbrachte, fühlte er sich manchmal auf Grund der Hänseleien nicht wohl. Das tat mir unendlich leid für ihn.Vor allem verstand ich nicht, warum die Kinder ihn deswegen hänselten. Er war keinesfalls dick, stämmig und groß eben, aber nicht dick.
Ich war machtlos. Natürlich sprach ich mit den Betreuern oder in der Schule mit den Lehrern über dieses Problem. Doch die waren genauso machtlos wie ich. Immer wieder kam es zu Hänseleien und Marco begann langsam, sich zurück zu ziehen, trotzdem war alles noch im ganz normalen Bereich.
Ich hatte eine sehr enge Beziehung zu meinen Kindern und sie zu mir. Auf Grund unserer Familienkonstellation auch durchaus verständlich.
Jede Mutter liebt ihre Kinder. Jedoch ist jedes Kind ein Individuum. Mir ging es so, dass ich die Intensität der Gefühle für meine Kinder als gleich stark empfand. Trotzdem hatte ich zu jedem Kind eine ganz eigene Beziehung.
Marco war mein Sohn - und zum damaligen Zeitpunkt mein Jüngster. Ich war neugierig auf seine Jungenwelt, wollte teilhaben an seinen Abenteuern, wollte ihn begleiten, so gut ich konnte. Es faszinierte mich, einen Jungen, der später mal ein Mann sein würde, aufwachsen zu sehen. Er war mein kleiner Prinz, dem ich viel - vielleicht manchmal zuviel durchgehen ließ. Wenn er mich mit seinen großen blauen Augen ansah, dann schmolz ich wie Butter in der Sonne. Instinktiv - oder vielleicht manchmal sogar auch berechnend? - wusste er genau, wo er welchen Hebel anzusetzen hatte, damit ich genau das tat, was er wollte. Er konnte unendlich charmant und liebenswert sein, hatte ein ansteckendes, von Herzen kommendes Lachen und war mein Sonnenschein.
Bianca war meine Große. Sie musste schon früh auch Verantwortung für ihren kleinen Bruder übernehmen. Bianca wusste schon als Kind genau, was sie wollte und machte das ihrer Umwelt auch unmissverständlich klar. Sie war immer sehr direkt, hielt nie etwas davon, hinter dem Rücken anderer Menschen über diese zu reden, das fand sie bereits als Kind äußerst ungerecht. Heute noch ist sie ein Mensch, der klare Verhältnisse schafft und nicht viel von der Diplomatie ihrer Mutter geerbt hat. Sie war ein ganz nomales Mädchen, das rosa toll fand, Rüschchen und Kleidchen und Lackschuhe liebte. In vielen Dingen fand ich mich als kleines Mädchen wieder, wenn ich sie betrachtete. Vieles war aber auch neu und unbekannt an ihr und ich staunte immer wieder, was für einen ausgeprägten Charakter Bianca bereits als Mädchen hatte. Ich liebe sie genauso tief wie Marco, trotzdem rieben wir uns mehr aneinander. Heute weiß ich, dass das ganz normal ist. Ein Mädchen kann viel von der Mutter lernen, bleibt aber trotzdem immer sie selbst und entwickelt ihre eigene Art, mit dem Leben umzugehen. An den Reibereien wachsen die Töchter und entwickeln ihre eigene Persönlichkeit - und das ist gut so.
Vor Kurzem haben wir uns unterhalten und sie sagte mir:"Es hat mir nie etwas ausgemacht, dass Du Marco lieber gehabt hast als mich, als wir noch Kinder waren. Ich bin gut damit zurecht gekommen."
Sicher wollte sie mich damit nicht vor den Kopf stoßen, ich sagte ja bereits, sie ist sehr direkt und sagt ehrlich, was sie denkt.
Trotzdem hat mich diese Ausage sehr getroffen. Ich versicherte ihr, dass das niemals so war, dass ich aber schon allein auf Grund der Tatsache, dass Marco ein Junge war und sie ein Mädchen, zu jedem von ihnen eine eigene Beziehung hatte, dies aber meine Gefühle zu ihnen nicht beeinflusste.
Ich habe lange überlegt, was sie dazu bewogen haben könnte, meine Mutterliebe zu ihr und ihrem Bruder so unterschiedlich zu empfinden.
Im Nachhinen gesehen glaube ich, dass es der Fakt war, dass sie die Ältere war und ich ihr dadurch mehr Verantwortung gab und im Gegenzug dazu Marco immer als "den Kleinen" sah und ihm entsprechend mehr durchgehen ließ. Von "pädagogisch wertvollen"  Sätzen wie:"Lass ihn doch! Er ist doch noch so klein!" oder "Das versteht er noch nicht, Du aber schon!" oder "Du bist die Ältere! Von Dir erwarte ich, dass..." habe ich abends schon ab und an Gebrauch gemacht , wenn ich geschafft und müde von der Arbeit nach Hause kam und die beiden sich wegen irgend einer Kleinigkeit zankten.
Nur um meine Ruhe zu haben habe ich auf diese Art und Weise manchmal sicher ungerecht gehandelt und Bianca musste darunter mehr leiden als Marco. Heute verstehe ich, dass sie sich dadurch benachteiligt fühlte und den Rückschluss zog, dass ich ihren Bruder lieber hätte als sie.
Natürlich hat das Marco aus seiner Sicht auch bemerkt und beide haben sich als bereits Erwachsene darüber unterhalten und auch er meinte, er wäre mein bevorzugter Liebling gewesen. War er das wirklich? In gewissem Sinne hatte er eine ja wirklich eine Sonderstellung: er war das einzige männliche Wesen in unserer kleinen Familie - und er war der Jüngste.
Durch die Art, Bianca als die Ältere mit in die Veratwortung für ihren kleinen Bruder zu nehmen und ihn quasi "zu schonen", erreichte ich zwei Dinge: Bianca wurde frühzeitig eigenständig und war in der Lage, für sich UND ihren kleinen Bruder zu sorgen. Marco hingegen entwickelte diesbezüglich ein Defizit. Er musste sich um weitaus weniger kümmern als seine Schwester, wurde von ihr und von mir doppelt behütet.
Erst jetzt reden wir darüber -jetzt, da Bianca 30 Jahre und Marco 27 Jahre alt ist. Als Kinder haben mich die beiden nicht damit konfrontiert - zumindest erinnere ich mich nicht daran.
Es ist nicht leicht, als Mutter zurück zu schauen und sich eingestehen zu müssen, dass man so manches hätte besser machen können. Doch die Chance ist vertan und es ist wie es ist. Mit allen Konsequenzen. Wie soll man mit seinen Fehlern, die Jahrzehnte zurück liegen und einen bis heute verfolgen, umgehen? Lange Zeit entschied ich mich dafür, die Schuld auf mich zu nehmen und dafür zu büßen. Doch ich habe gelernt, dass man Dinge nicht mehr ungeschehen machen kann, mit seinen Fehlern leben muss und dass niemandem geholfen ist, wenn man sich selbst immer wieder die Schuld gibt und auf der Stelle tritt.
Das Leben geht weiter. Für jeden. Für Bianca, für Marco, und auch für mich.
Ich übernehme die Verantwortung für mein Handeln und schaue wieder vorwärts.


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