Mut zu neuem Denken

Von Lyrikzeitung

ARTus-Kolumne »SO GESEHEN« Nr. 507

Im Dietz Verlag Berlin, dem Verlag mit der roten Fahne als Logo, erschien wenige Jahre vor der Implosion der DDR (1987 und 1988) ein aus vier Bänden bestehendes Bücherkonvolut, eingebettet in moosgrünen, wenig auffallenden Schutzumschlägen, das ausgewählte Reden und Aufsätze des Mannes enthielt, den viele auch heute noch liebevoll »Gorbi« nennen und den Bürgerbewegte in Ost wie West als Hoffnungsträger auf dem politischen Plateau der Weltmacht Sowjetunion ausmachten. Trotz oder gerade wegen seines hohen politischen Amtes, in das er Mitte der 80er Jahre gewählt wurde und das er so ganz anders als erwartet (oder befürchtet?) ausfüllte.

War dieser Michail Sergejewitsch Gorbatschow, immerhin einst Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, der so lang ersehnte umgängliche Politikertyp, der Furor, der konsequent, endlich »offen und ehrlich« auch »eigene Fehler und Mängel« im System souverän zu diagnostizieren verstand?

War Gorbatschow nur ein in die Zukunft träumender, charismatischer Romantiker oder als Politiker ein Realo, der die Zeichen seiner Zeit sah, interpretierte und so gesehen längst überfällige Schlüsse daraus zog, »Mut zu neuem Denken« bewies?

Wer wollte da nicht ausführlicher nachlesen, Argumente sammeln, Worte der Wandlung für eigenes Tun verfügbar machen, dem eigenen Nachdenken Munition liefern? Vergeblich hielt ich Ausschau nach Band 3, der den Perestroika-Parteitag, den XXVII. Parteitag der KPdSU vom Februar/März 1986 ausgiebig mit Worten dokumentierte, so hörte man hinter vorgehaltener Hand. Und Band 4, war der überhaupt erschienen?

Erst lange nach der Wende und dem Ende der DDR konnte ich in Kluptow bei Bergen auf Rügen die mir fehlenden Gorbatschow-Bände zu einem Spottpreis auf einem Trödel-Sommerfest erwerben. Sogar den bislang unauffindbaren Band 4, der doch tatsächlich, allerdings nur in einer einzigen Auflage, 1988 erschienen war. Nun also zählten die Gorbi-Reden und Aufsätze zum »Trödel« !?

Ähnlich den schnell mit dem Stempel »Ausgeschieden« ausgesonderten Exemplaren ehemaliger SED-Parteischulen, die man heute kurioser Weise über das Internet zu moderaten Preisen ordern kann. Mussten die einst staatstragenden Bibliotheken damals als Auffangstätten für Alibi-Auflagen des Reformers herhalten?

Ich frage mich, schaue ich auf den weltweiten Werteverfall durch den grassierenden Turbo-Kapitalismus wie lange wohl Gorbi-Bücher noch zum Trödel zählen und ob sie nicht irgendwann ihre Renaissance erleben werden?

Die vier Gorbi-Bände hebe ich sicherheitshalber mal auf. Ich werde sie meinen Enkeln zur diskutablen Leselektüre anempfehlen, falls wieder mal eine »Umgestaltung«, sprich »Perestroika« auf der Tagesordnung steht. ARTus

Gedanken anlässlich des 80. Geburtstages von Michail Gorbatschow. Montage: ARTus